Kalte Stille - Kalte Stille
Blutgerinnungsstörungen, auch als das Kasabach-Merritt-Syndrom bekannt. Jan hatte bislang nur Abbildungen in Fachbüchern gesehen, doch die Wirklichkeit sah um einiges schlimmer aus. Er musste an den Engländer Joseph Merrick denken, der Ende des neunzehnten Jahrhunderts als der »Elefantenmensch« traurige Berühmtheit erlangt hatte.
Die riesige Missbildung der Frau hatte eine schwammartige Oberfläche, die an einigen Stellen durch blasenartige Gebilde unterbrochen wurde. Sie nahm nahezu die Hälfte ihres Gesichts ein und verzog den Mund der Frau zu einem unnatürlichen Dauergrinsen.
»Glotz nicht«, brummte die Frau. »Sag mir lieber, wer du bist.«
Jan spürte die Hitze in seinem Gesicht. Es war ihm peinlich, sie so anzustarren. Er räusperte sich und versuchte, ihr direkt in die Augen zu schauen.
»Ich bin Dr. Forstner von Station 9.«
»Ein Doktor also«, sagte die Frau und blieb dicht vor ihm stehen. Sie war einen guten Kopf kleiner als Jan und musste zu ihm aufsehen. Jan glaubte Schokolade an ihr zu riechen.
»Aber das ist nicht das Einzige, was du bist.«
»Ach nein?«
»Nein.«
Sie schüttelte den monströsen Schädel, und für einen
Augenblick zuckte Jan der aberwitzige Gedanke durch den Kopf, dass er gleich ein gluckerndes Geräusch aus dem blutgefüllten Gebilde würde hören können - was freilich absoluter Unfug war.
»Du bist einer wie viele hier. Jemand wie ich. Ein Gefangener, der gleichzeitig sein eigenes Gefängnis ist.« Sie zeigte auf ihren Kopf. »Da oben steckst du drin. Das sieht man sofort.«
Jan fröstelte. Er rief sich ins Bewusstsein, dass er mit einer Patientin auf einer geschlossenen Abteilung sprach, einer Frau, die sicherlich nicht ohne Grund hier war. Womöglich hatte das Hämangiom auch ihr Gehirn befallen - das war sogar sehr wahrscheinlich, da man es ihr andernfalls längst entfernt hätte -, und wenn dem so war, litt diese Frau unter psychischen Störungen. Doch ihre Worte trafen ihn an seiner verwundbarsten Stelle.
Jan konnte nicht genau sagen, ob das von ihrer Entstellung verursachte Dauergrinsen nun breiter geworden war, aber er war sich ziemlich sicher, in den Augen dieser Frau eine Art Zufriedenheit zu erkennen.
Sie weiß, dass sie richtig liegt, fuhr es ihm durch den Kopf.
Doch noch bevor er in der Lage war, sich von Jan Forstner, dem Mann mit dem Problem, in Dr. Jan Forstner, den Facharzt für Psychiatrie, zurückzuverwandeln, fuhr die Frau fort. »Ich bin schon weiter als du«, sagte sie und strich sanft mit der Kuppe ihres Zeigefingers über das violette Hautgebilde. »Ich bin dabei, aus meinem Gefängnis da oben auszubrechen. Die schlechten Gedanken kommen aus mir heraus, und wenn alle draußen sind, wird alles von mir abfallen. Dann bin ich frei.«
Nun war sich Jan sicher, dass sie ihn in der Tat anlächelte.
»Du solltest Jesus um deine Freiheit bitten, dann wird er auch dich segnen. So, wie er mich gesegnet hat.«
Damit ließ sie ihn stehen und zog von dannen.
»Hat Sibylle Sie belästigt?«
Jan sah zu der Schwester, die in der Tür des Stationszimmers stand. Sie musste die Szene beobachtet haben.
»Im Gegenteil«, sagte Jan. »Es war eine interessante Begegnung.«
»Dann bin ich beruhigt. Wissen Sie, seit dem Einbruch vor vier Wochen ist die Ärmste völlig durcheinander und redet viel wirres Zeug.«
»Hier ist eingebrochen worden?«
»Unglaublich, oder?« Die Schwester nickte und senkte die Stimme. »Ein Patient von der Männerstation gegenüber. Hat sich den Schlüsselbund eines Pflegers geklaut und ist dann nachts zu uns herüber. Ob Sie’s glauben oder nicht, der Kerl wollte hier Unterwäsche klauen. Aus der Schmutzwäsche ! Stellen Sie sich das nur vor. Sibylle hat ihn dabei entdeckt, und jetzt hat sie Angst, er könnte wiederkommen und ihr etwas antun.«
»Und?«, fragte Jan. »Ist ihre Sorge berechtigt?«
»I wo«, winkte die Schwester ab. »Den haben sie auf Haus 9 gebracht, in die Geschlossene.« Sie zeigte auf die Glastür zum Treppenhaus. »Aber jetzt sollten Sie zu Dr. Rauh gehen. Er wartet schon auf Sie.«
Bevor Jan den Gang zum Untergeschoss betrat, sah er sich noch einmal nach der Tür um, durch die Sibylle gegangen war. Dort stand sie und spähte hinter dem Türrahmen zu ihm herüber.
Ich bin schon weiter als du, hörte er sie wieder. Ich bin dabei, aus meinem Gefängnis da oben auszubrechen.
Und dann?, dachte Jan. Was wird sein, wenn du es geschafft hast? Was wird dich draußen erwarten?
Und wieder wurde das
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