Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Kalte Stille - Kalte Stille

Titel: Kalte Stille - Kalte Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wulf Dorn
Vom Netzwerk:
bestimmten Zeit vernichtet? Soweit ich weiß, bewahren Kliniken ihre Akten höchstens fünfzehn Jahre auf.«
    »Irrtum.« Liebwerk schüttelte einen Zeigefinger, der kaum mehr als Haut und Knochen war. »Rein versicherungstechnisch beträgt die Aufbewahrungspflicht dreißig Jahre. Allerdings finden Sie hier Akten von Leuten, die bei uns vor wesentlich längerer Zeit zu Gast gewesen sind. Damals, als es noch Diagnosen wie ›Schwachsinn‹ und ›Hysterie‹ gab und Homosexualität noch als Krankheit galt. Ich sage Ihnen, manche dieser Arztberichte lesen sich, als habe der gute Seelenklempner selbst nicht mehr alle im Oberstübchen gehabt. Dagegen nehmen sich manche Zeugenaussagen aus den Hexenprozessen wie Tatsachenberichte aus.«
    Mit einer abrupten Bewegung wandte sich Liebwerk von Jan ab und hielt auf die Tür zu, durch die er eben eingetreten war. »Kommen Sie, Doktor, ich will Ihnen was zeigen.«

    Verwundert folgte Jan dem Alten, der sich hustend eine neue Zigarette ansteckte.
    Der angrenzende Raum war so groß, dass man in ihm einen Opernball hätte veranstalten können - jedenfalls, wenn er nicht mit Unmengen von Kartons vollgestellt gewesen wäre.
    »Für was halten Sie das hier, Dr. Forstner?«, fragte Liebwerk und deutete auf die riesigen Kartonstapel.
    »Na ja, ich würde sagen, es ist das größte Klinikarchiv, das ich je gesehen habe.«
    »Für mich«, sagte Liebwerk und hustete, »für mich ist das der Inbegriff von krankhaftem Geiz.«
    »Wie darf ich das verstehen?«
    Liebwerk stieß den Rauch durch die Nase aus. »Sehen Sie, schon als ich hier vor Gott weiß wie vielen Jahren angefangen habe, türmten sich die Aktenstapel. Zwar gab es damals einen Aktenvernichter, aber das Teil musste aus der Steinzeit gestammt haben. Ich war kein halbes Jahr hier unten, als es den Geist aufgegeben hat. Seither kommen Jahr für Jahr neue Akten dazu. Und bei inzwischen fast zehntausend Patienten jährlich ist das bei Gott eine Menge. Also sortiere ich die älteren Akten aus den vorderen Schränken in Kartons und stelle sie hier ab. Schön ordentlich. Jahr für Jahr für Jahr.«
    Wieder schüttelte ihn ein Hustenanfall. Dann fuhr er fort: »Und genauso regelmäßig beantrage ich einen neuen Aktenvernichter. Der käme billiger, als eine Firma mit der Entsorgung zu beauftragen, sage ich immer, und ich habe hier unten ja Zeit. Aber solange in diesem Raum noch Platz ist, interessiert das keinen. Man muss ja sparen.«
    »Dann ist wenigstens Ihr Arbeitsplatz sicher«, sagte Jan und lächelte Liebwerk zu. Der nickte.

    »So kurz vor der Rente juckt es mich ohnehin nicht mehr. Aber mein Nachfolger tut mir jetzt schon leid. Der arme Kerl wird sich vorkommen, als hätte er den alten Sisyphos beim Rollen des Felsbrockens abgelöst.«
    Jan sah auf seine Uhr. Es war Zeit für ihn, auf die Station zurückzukehren. Doch gerade als er sich bei Liebwerk für die interessante Führung bedanken und gehen wollte, kam ihm eine Idee. Nachdenklich betrachtete er die hohen Kartontürme und war sich unschlüssig, ob er Liebwerk danach fragen sollte. Doch was hatte er schon zu verlieren?
    »Sagen Sie, wäre es Ihnen möglich, mir eine Akte aus dem Jahr 1985 herauszusuchen?«
    Liebwerk legte den Kopf schief und sah ihn skeptisch an. »Sicher. Hier hat alles seine Ordnung. Aber was wollen Sie damit?«
    Jan überlegte, ob er sich eine Geschichte aus den Fingern saugen sollte, entschied dann aber, bei der Wahrheit zu bleiben. Diese hellwachen blassgrauen Augen hätten ihn sofort durchschaut, darauf wäre Jan jede Wette eingegangen.
    »Sagen wir, aus privater Neugier.«
    »Aha«, krächzte der Alte und trug seinen Zigarettenstummel zum Aschenbecher auf dem Schreibtisch im Vorraum.
    Jan folgte ihm, und als Liebwerk sich wieder zu ihm umsah, blitzten seine Augen verschmitzt.
    »Dazu müsste ich aber in diesen staubigen Kartonstapeln herumklettern, und ich bin ja nun kein junger Springinsfeld mehr.«
    Jan verstand die Andeutung und schmunzelte. »Ich würde mich natürlich erkenntlich zeigen.«
    Liebwerk lachte. »Ich sehe schon, wir verstehen uns,
Doktor. Wären Sie mit zwei Stangen Zigaretten einverstanden?«
    »Geht in Ordnung. Die Patientin, nach der ich suche, heißt Alexandra Marenburg.«
    Wieder sah ihn Liebwerk argwöhnisch an. »Private Neugier also, soso. Aber eins ist doch hoffentlich klar: Ganz gleich, warum Sie sich dafür interessieren, ich werde danach nichts davon wissen und die Akte wird diesen Raum nie verlassen. Haben wir uns

Weitere Kostenlose Bücher