Kalte Stille - Kalte Stille
den Sinn, als er mit fast drei Stunden Verspätung seinen Dienst antrat.
Zuvor hatte er am Unfallort seine Zeugenaussage zu Protokoll gegeben und mit dem Notarztteam gesprochen, das unmittelbar nach dem Tod der Brückenspringerin eingetroffen war. Danach hatte Jan seine Station verständigt, dass er sich verspäten würde, war noch einmal zurückgefahren und hatte ausgiebig geduscht.
Rudolf Marenburg war nicht im Haus gewesen, worüber Jan nur froh war. Er hätte nicht den Nerv gehabt für lange Erklärungen. Er hatte auch nicht den Nerv gehabt, seine blutverschmierten Schuhe zu reinigen, weshalb er sie in eine Plastiktüte gepackt und in der Mülltonne entsorgt hatte.
Den ganzen Tag über bekam Jan das schreckliche Bild des zerschmetterten Schädels mit dem einzelnen Auge nicht mehr aus dem Kopf. Doch als er am späten Nachmittag in seinem kleinen Büro saß und mit einem Patienten ein letztes Gespräch vor dessen Entlassung führte, war aus dieser Erinnerung das surreale Gefühl geworden, all die Ereignisse dieses Morgens nur geträumt zu haben. Ja, alles schien nur ein Alptraum gewesen zu sein oder einer jener Horrorfilme, die sein junger Patient hier mit Vorliebe sah.
Kevin Schmidt sah aus wie Graf Dracula persönlich. Dunkle Kleidung, weißes Make-up, die schwarz gefärbten Haare zu einer Krone hochgegelt. Nur hätte sich ein echter Vampir sicherlich keinen Rosenkranz um den Hals gehängt.
»Wissen Sie, Doc, das Leben ist für mich immer noch ein Stück Scheiße«, sagte er trocken. Er sah Jan dabei nicht an, sondern zupfte an einem Button mit der Aufschrift BARLOW RULES herum, den er am Revers seines Ledermantels trug. »Aber der Stoff, den man mir hier gegeben hat, ist echt gut. Jetzt stinkt die Scheiße wenigstens nicht mehr so übel wie früher. Wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Wenn du vorhin wie ich dem Tod begegnet wärst, würdest du das wahrscheinlich anders sehen, dachte Jan.
»Freut mich, dass sich Ihr Zustand so gebessert hat.« Jan rang sich ein Lächeln ab.
»Na ja, vielleicht freut Sie’s auch nur, dass Sie wieder einen Psycho weniger auf der Liste haben«, gab der depressive Vampir zurück und erhob sich. »Kann ich jetzt die Fliege machen?«
»Ja, schwirren Sie los«, sagte Jan, »und viel Glück für die Zukunft.«
Kevin Schmidt schnaubte nur verächtlich und verließ das Büro. Er hinterließ eine schwere Patschuliduftwolke, die Jan veranlasste, trotz der Kälte das Fenster aufzureißen. Dann schrieb Jan seinen Abschlussbericht fertig und packte die Akte in ein Kuvert.
Bis zu seinem Termin am Abend blieb ihm noch Zeit, weshalb er beschloss, einen kurzen Spaziergang zum Archiv zu machen, statt das Kuvert in die Hauspost zu geben.
Auf dem Gang begegnete er Ralf Steffens. Wieder dachte Jan, dass der Pfleger ungewöhnlich ernst wirkte, und sah ihn aufmunternd an.
»Alles in Ordnung mit Ihnen? Sie sind so blass.«
Ralf zuckte nur mit den Schultern. »Geht schon. Ist privat.«
Privat ist privat, dachte Jan und ließ es dabei bewenden. Wer, wenn nicht er, wusste, dass es Dinge gab, über die man nicht gern mit anderen sprach. Also wechselte er das Thema und fragte nach dem Weg zum Archiv.
Ralf hatte kaum geantwortet, als Konni Fuhrmann zu ihnen kam und seinen Kollegen ans Telefon holte. Eine Frau sei am Apparat, erklärte er, und es sei dringend. Jan hoffte für Ralf, dass der Anruf der ersehnte Lottogewinn sein würde. Es musste ja nicht gleich ein Sechser mit Zusatzzahl sein, aber ein »Lass uns noch mal darüber reden« wäre auch schon was wert.
Ein eisiger Wind pfiff durch die knorrigen Bäume, die den Weg zum Nebentrakt des Verwaltungsgebäudes säumten, wo sich das Archiv befand. Es hatte aufgehört zu schneien, aber die dunkle Wolkenfront, die sich langsam von Osten heranschob, deutete auf neue Schneefälle hin.
Obwohl es nur fünf Gehminuten von Station 9 waren, fror Jan erbärmlich. Aber das war in Ordnung, denn das Frieren und der kurze Weg an der frischen Luft erzielten den gewünschten Effekt. Nach dem Vorfall am Morgen hatte er den ganzen Tag weiche Knie gehabt und ein unangenehmes Ziehen in der Magengegend. Jetzt fühlte er sich besser.
Als er schließlich den Seiteneingang zum Archiv erreichte, folgte er der Beschilderung, die ihn zu einer Treppe in den Keller führte.
Wie die meisten Gebäude der Klinik stammte der L-förmige Verwaltungstrakt aus der Gründungszeit um 1900. Trotz der modernen Halogenfluter, die das Treppenhaus beleuchteten, und der hellen
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