Kalte Stille - Kalte Stille
würden. Und während alldem bin ich an Ihrer Seite, um Sie sofort zurückzuholen, wenn ich den Eindruck habe, dass es zu viel für Sie wird.«
Jan rieb sich unschlüssig die Hände. Noch immer sträubte sich alles in ihm, sich auf dieses Experiment einzulassen. Ihm machte der Rollentausch zu schaffen, der ihn, der sonst den Platz des Therapeuten einnahm, nun zum Patienten werden ließ. Er fühlte sich ausgeliefert.
Was würde geschehen, wenn Rauh tatsächlich Erfolg hatte? Mehr als dreiundzwanzig Jahre hatte Jan sich abgemüht, die Geister der Vergangenheit hinter Schloss und Riegel zu halten. Immer wieder hatten sie versucht, sich aus ihrem Verlies zu befreien, und bei seiner Begegnung mit Laszinski war es ihnen sogar kurzzeitig gelungen.
Was, wenn Rauh die Verliestür ganz bewusst aufstieß? Was, wenn all die schlimmen Dinge wieder auf Jan losgelassen würden?
Was, wenn sie mich wie eine wild gewordene Büffelherde niedertrampeln?
»Ich weiß nicht, ob ich dieses Wagnis wirklich eingehen will«, sagte er schließlich. »Im Geiste bin ich unzählige Male zu den Ereignissen von damals zurückgekehrt, aber das Ergebnis war immer dasselbe: Ich werde nie die Antwort auf meine Fragen bekommen.«
»Und?« Rauh legte den Kopf schief. »Stellt Sie dieses Ergebnis zufrieden?«
Jan schlug die Augen nieder. Du hast heute Nacht schon wieder geschrien.
»Nein. Aber ich denke, ich muss lernen, mich damit abzufinden.«
»Das ist eine Möglichkeit«, entgegnete Rauh. »Aber vielleicht haben Sie bisher nur den falschen Weg gewählt, um die Antworten zu finden? Eine Reise in die Vergangenheit mittels Hypnotherapie ist von einer völlig anderen Qualität. Die Trance ermöglicht es, all die Schutzmechanismen außer Kraft zu setzen, die uns einen direkten Blick auf belastende Ereignisse verwehren. Die Hauptannahme der Hypnotherapie lautet, dass der Klient bereits genug Informationen zur Lösung seines Problems in sich trägt. Die Hypnose setzt diese Lösungsmöglichkeiten
frei und ist deshalb nicht selten der beste Weg zu einem schnellen therapeutischen Erfolg.« Rauh sah Jan herausfordernd an. »Also, was meinen Sie? Wollen Sie dem Ganzen nicht wenigstens mal eine Chance geben?«
Dass er es allein nicht schaffen würde, war Jan inzwischen klar. Und wenn er diese Gelegenheit nicht beim Schopfe packte, würde er sich später nur Vorwürfe machen. Dafür kannte er sich selbst zu gut.
Alles, was er tun musste, war, diese Furcht vor dem Kontrollverlust über Bord zu werfen. Rauh war bei ihm und wusste, was er tat. Er musste ihm einfach vertrauen.
»Also schön«, sagte Jan. »Versuchen wir’s. Aber wehe, Sie bringen mich zum Gackern.«
Rauh lachte und stand auf. »Sie werden nur gackern, wenn Ihnen selbst danach zumute ist.«
Der Therapeut ging zu der Kommode und entnahm ihr vier Bronzeschalen. Er erklärte, dass es sich um tibetische Klangschalen handelte, und platzierte sie an den Ecken des Tischs. Dann brachte er sie mit einem Klöppel zum Schwingen.
»Jeder Hypnotiseur hat seine eigene Methode«, meinte er, »und ich finde, dieser Klang ist ein guter Wegbereiter für eine Trance.«
Jan folgte Rauhs Instruktionen. Er machte es sich im Sessel bequem, schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Schwingungen der Klangschalen. Zwei hohe Obertöne schwebten über einem tiefen, gleichmäßigen Brummen.
»Lassen Sie sich von diesen Tönen tragen«, hörte er Rauhs Stimme. Sie war irgendwo neben oder hinter ihm, doch wie aus weiter Ferne.
»Atmen Sie ruhig und gleichmäßig, und stellen Sie sich nun bitte Folgendes vor: Sie sitzen mitten in einem großen Kino.«
Jan stellte es sich vor, und es fiel ihm nicht schwer. Während seiner Jugend war er gern und häufig ins Kino gegangen. Also stellte er sich den Fahlenberger Filmpalast vor. So, wie es damals dort ausgesehen hatte. Er sah wieder die altmodische Tapete mit dem knalligen Siebzigerjahremuster aus orangefarbenen und braunen Streifen oberhalb der dunklen Holztäfelung, und plötzlich waren da auch wieder die orangefarbenen Plastikleuchten an der Wand.
Das Kino war bis auf den letzten Platz gefüllt. Noch war es hell, und alles wartete gespannt auf die Vorstellung. Es roch nach Popcorn, und jemand hinter Jan raschelte mit einer Tüte.
»Sie sind allein in diesem Kino«, fuhr Rauhs Stimme fort.
Augenblicklich waren die Leute um Jan herum verschwunden. Nicht einmal der Popcorngeruch war geblieben. Rauh sprach weiter, doch obwohl Jan ihn noch irgendwo in seiner Nähe
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