Kalte Stille - Kalte Stille
Werdegang entscheiden.
Er hatte sich schon mit dem Gedanken abgefunden gehabt, nie wieder zu praktizieren, als er plötzlich vor zwei Wochen Fleischers Einladung im Briefkasten fand. Zum ersten Mal schöpfte er wieder Hoffnung. Natürlich war ihm klar, dass die Einladung noch keine Zusage war, aber nach all den Absagen, die Jan in den letzten Monaten erhalten hatte, war dieses Vorstellungsgespräch zumindest eine Chance - und es war fraglich, ob er noch eine weitere erhalten würde. Nicht nach dem, was geschehen war.
»Wohl wahr. Aus Kindern werden Leute, und aus den Eltern werden alte Leute. Tja.«
Fleischer seufzte und sah ein wenig wehmütig drein. Dann legte er Jans Bewerbungsmappe vor sich auf den Tisch und nickte anerkennend.
»Und wie ich hier sehe, Jan, ist aus Ihnen auch etwas geworden. Hervorragendes Abitur, Studium der Medizin in Heidelberg, mehrere Assistenzstellen bei namhaften Kollegen und ein exzellenter Abschluss Ihrer Facharztausbildung. Noch dazu an einer der forensischen Einrichtungen, an denen einem die Arbeit ein ziemlich gutes Nervenkostüm abverlangt. Alle Achtung, Bernhard wäre stolz auf Sie.«
»Das Gebiet hat mich schon während meines Studiums interessiert«, warf Jan fast schon entschuldigend ein. Das Lob machte ihn verlegen.
»Triebtäter?« Fleischer hob die Brauen und nahm seine Lesebrille ab. »Kein einfacher Bereich, beileibe nicht. Umso beeindruckter bin ich von Ihrer Dissertation. Summa cum laude . Da waren Sie besser als ich. Wenn ich richtig informiert bin, wird das von Ihnen entwickelte Instrument zur Typisierung pädophiler Straftäter inzwischen an mehreren Institutionen angewandt.«
»An zwei, um genau zu sein. Wobei man sagen muss, dass sich der Fragebogen in einem Fall erst in der Erprobungsphase befindet und es noch nicht sicher ist, ob er tatsächlich implementiert werden soll.«
Fleischer grinste. »Mir kommt es vor, als säße ich Ihrem Vater gegenüber. Er war wie Sie, Jan, voller Ehrgeiz, aber mit Lob wusste er nichts anzufangen.«
»Nun ja, ich wollte nicht …«
»Nein, das ist schon in Ordnung«, unterbrach ihn Fleischer mit einer abwehrenden Handbewegung. »Das gefällt mir. Genau deshalb mochte ich Bernhard. Diese Haltung zeichnete ihn schon während unseres Studiums aus. Er war keiner dieser eingebildeten Kerle, die sich für die künftigen Halbgötter in Weiß hielten. Umso mehr freut es mich, nun auch bei Ihnen diesen Wesenszug wiederzufinden. Mir sind Menschen zuwider, die sich auf ihren Lorbeeren ausruhen. Wie heißt es doch so trefflich: Wer glaubt, etwas zu sein, hört auf, etwas zu werden. Insofern haben Sie die besten Zukunftsaussichten.«
Im Moment liegen meine beruflichen Zukunftsaussichten eher im Nullbereich, und das wissen wir beide, dachte Jan.
»Wie Sie sich bestimmt denken können«, fuhr Fleischer fort, »habe ich Erkundigungen über Sie eingezogen, ehe ich Sie zu diesem Gespräch eingeladen habe. Aber ich muss auch sagen, dass ich Sie seit jener … nun
ja, sagen wir: seit jener Tragödie damals nie ganz aus den Augen verloren habe. Vor allem nicht, nachdem ich erfuhr, dass Sie in Bernhards Fußstapfen getreten sind, wenngleich auch auf einem anderen Fachgebiet.« Er tippte auf die Mappe und sah Jan mit wissendem Blick an. »Der Grund, warum Sie sich ausgerechnet darauf spezialisiert haben, liegt ja gewissermaßen auf der Hand - Ihre Vita lässt kaum einen Zweifel aufkommen. Nun frage ich mich, ob Ihre Suche nach der Wahrheit zu einem Ergebnis geführt hat?«
Jan musste schlucken. Er hatte sich lange auf dieses Gespräch vorbereitet, war sämtliche möglichen Fragen im Geiste durchgegangen, und hatte gewusst, dass es zwei große Hürden zu meistern galt. Natürlich spielte Fleischer mit seiner Frage auf Sven an, und es lag an Jan, diese erste Hürde zu nehmen, ohne dabei zu stolpern.
Wie immer, wenn jemand seinen Bruder erwähnte, kam es Jan so vor, als sei alles erst gestern geschehen. Jan hatte sich gut überlegt, wie er dieses heikle Thema angehen sollte. Er wusste, dass Fleischer von ihm die Wahrheit hören wollte, und dass diese Wahrheit sehr persönlich war. Jemandem, der ihn von Kindesbeinen an kannte, konnte und durfte er nichts vormachen. Dennoch hatte er sich vorgenommen, so sachlich wie irgend möglich zu antworten.
»Offen gesagt weiß ich nicht, ob ich wirklich zu einem Ergebnis gelangt bin. Ich wollte die Tat begreifen, indem ich versuchte, die Motivation des Täters zu verstehen. Jedes Jahr werden bundesweit fast
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