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Kalte Stille - Kalte Stille

Titel: Kalte Stille - Kalte Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wulf Dorn
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der Hauswand ab. »Ich würde gerne mit Ihnen reden.«
    »Du bist der junge Forstner, nicht wahr?«
    Jan nickte.
    »Dachte mir schon, dass du hier auftauchen wirst«, sagte Amstner und nahm einen Hammer vom Hackklotz.
    Im Licht der Hofleuchte sah der hagere Alte mit den Spinnwebhaaren unheimlich aus, fast wie ein Gespenst.
Dieser Eindruck wurde noch von dem verzerrten Schatten verstärkt, den er auf das Tor des Holzschuppens warf. Jan sah auf den Hammer in Amstners Hand und überlegte kurz, ob er sich lieber wieder mit der Schneeschaufel bewaffnen sollte, doch Amstner machte kehrt und ging zum Schuppentor. Dort legte er den toten Hasen im Schnee ab und wühlte ein paar Nägel aus den Hosentaschen, um gleich darauf den Hasen wieder hochzunehmen und mit den Hinterläufen an das Schuppentor zu nageln.
    Dann sah er sich zu Jan um. »Das kann nicht warten. Am besten geht das Fell ab, solange der Körper noch warm ist. Also, was willst du?«
    »Was haben Sie damit gemeint, Sie haben mit mir gerechnet?«
    Amstner zog ein Klappmesser aus der Jackentasche, ließ es aufschnappen und schnitt den Rücken des Tieres in Form eines Y auf. Der tote Körper dampfte in der Winterluft.
    »Du willst bestimmt über deinen Bruder sprechen, habe ich Recht?«
    Jan stutzte. Es überraschte ihn, dass er Amstner nicht nur mehr oder weniger nüchtern antraf, sondern dass der Alte auch von sich aus auf die Sache zu sprechen kam.
    »Nun ja, ich würde gern Ihre Version der Geschichte hören. Bisher weiß ich nur, was allgemein bekannt ist.«
    Amstner stieß ein verbittertes Lachen aus und machte sich an dem Hasen zu schaffen. Er schnitt die Hinterläufe bis zu den Pfoten auf, dann hob er das Tier an und durchschnitt das Fell den Bauch entlang zur Kehle. Obwohl die Hände des Alkoholikers leicht zitterten, wirkten seine Bewegungen sicher und routiniert.

    »Was allgemein bekannt ist? Du meinst, was die Schandmäuler über mich erzählen.«
    »Die Verdächtigungen gegen Sie wurden zurückgenommen.«
    Amstner sah sich zu Jan um und verzog das Gesicht zu einer grinsenden Grimasse. Dabei wurden seine eingefallenen Wangen von tiefen Furchen durchzogen, und Jan musste an einen zu groß geratenen Schrumpfkopf denken.
    »Von der Polizei, ja. Aber die ehrbaren Fahlenberger haben sich tapfer weiter das Maul über mich zerrissen. Ich will dir mal etwas verraten, junger Mann, ganz gleich, was du über mich gehört hast, es ist nichts weiter als ein Eimer voller Dreck. Und den hat man über mich ausgeschüttet, weil man mich schon lange vorher abgestempelt hatte. Diese bigotten Hinterwäldler haben einen Sündenbock gebraucht, weil das, was deinem Bruder zugestoßen ist, nicht in ihre heile Welt gepasst hat. Sie können es nicht ertragen, dass manchmal Dinge passieren, für die es keine einfachen Erklärungen gibt. Wenn man erst mal einen Schuldigen hat, ist die Welt wieder in Ordnung. Dann kann man so weitermachen wie vorher, und alles hat wieder seinen Platz.«
    Amstner wandte sich wieder dem Hasen zu und begann mit der hakenförmigen Klinge seines Taschenmessers das Fell von den Hinterläufen abzulösen. Eine breite Blutspur lief am Scheunentor herab.
    »Hören Sie«, sagte Jan, »ich bin nicht gekommen, um Sie mit alten Vorwürfen zu konfrontieren …«
    »Weshalb bist du dann hier?«, unterbrach ihn Amstner und sah sich zu Jan um. Dann funkelte es in seinen Augen. »Ah, ich verstehe. Du suchst nach der Wahrheit, oder?«

    Jan machte eine ratlose Geste. Der wirkliche Grund für seinen Besuch war nur schwer in Worte zu fassen. Seit er beim Verlassen der Klinik auf die Idee gekommen war, Amstner einen Besuch abzustatten, hatte er nach einer Antwort auf diese unvermeidliche Frage gesucht. Aber alles, was er dabei gefunden hatte, hätte ihn selbst ebenfalls wenig überzeugt.
    »Ich kann Ihnen nicht sagen, warum ich hier bin. Nicht, weil ich nicht will, sondern weil ich es selbst nicht so recht weiß. Man könnte sagen, dass ich versuche, hier in Fahlenberg endlich meinen Frieden zu finden. Entweder, indem ich die Wahrheit tatsächlich finde, oder indem ich akzeptiere, dass sie nie zu finden ist.«
    Amstner nickte, und Jan las in seinem Blick, dass er ihn sehr gut verstanden hatte.
    »Du willst die Wahrheit hören? Na schön, hier ist sie, die gottverdammte Wahrheit. Die, die niemand hören will. Ich weiß nicht, wer deinen Bruder entführt hat, genauso wenig, wie ich weiß, was man ihm angetan hat. Sie haben geglaubt, ich sei’s gewesen. Sie haben mich für

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