Kalte Stille - Kalte Stille
gerade durch das Gartentor, als er Amstner rufen hörte.
»He, Forstner!« Der Alte sah aus dem hellerleuchteten Fenster an der Frontseite des Hauses. »Damals, in der Nacht, in der dein Bruder verschwand - da habe ich etwas gesehen.«
Jan spürte einen frostigen Schauer, der nicht von dem eisigen Wind herrührte.
»Was haben Sie gesehen?«, rief er und ging zurück durch das Tor in den Vorgarten.
»Einen Wagen.« Amstner zeigte hinter sich. »Hinten durchs Küchenfenster. Rosa hat ihn auch gesehen. Ist mit einem Affenzahn den Feldweg zum Wald entlanggerast. Ich habe es der Polizei gesagt, aber die hat keine Spuren mehr gefunden. Hatte ja auch geschneit wie verrückt.«
»Wissen Sie noch, was für ein Wagen das war?«
Amstner schüttelte den Kopf. »Nein. Ging alles zu schnell. Außerdem war es zappenduster und der Schnee viel zu dicht. Na ja, und ich war ziemlich besoffen. Aber ich war noch nüchtern genug, um zu kapieren, dass er bei dem Sauwetter viel zu schnell gefahren ist.«
20
Begleitet von den dumpfen Schlägen der Fahlenberger Christopherus-Kirche ging Jan auf Marenburgs Haus zu. Halb neun, aber Jan kam es vor, als sei es mitten in der
Nacht. Frostiger Wind fegte durch die Straßen und trieb Eiskristalle vor sich her. Den ganzen Tag hatte es geschneit, und überall türmten sich die Schneehügel an den Straßen. Auch der Bürgersteig vor dem Haus und der Zugang zur Tür waren freigeräumt. Marenburg war fleißig gewesen.
Noch bevor Jan mit klammen Fingern die Haustür aufsperren konnte, wurde ihm geöffnet.
»Da bist du ja«, sagte Marenburg und schloss die Tür hinter ihm. »Ich hab mir schon Sorgen gemacht.«
Im Haus war es wohlig warm. Marenburg hatte den Kachelofen im Wohnzimmer angeheizt, und Jan spürte, wie sein Gesicht zu glühen begann. In Hubert Amstners Hinterhof war es zugig und kalt gewesen, und Jan war trotz seiner warmen Jacke bis auf die Knochen durchgefroren. Er setzte sich auf die Ofenbank.
»Hast du auf mich gewartet?«
Marenburg nahm in einem Sessel Platz und nickte. »In der Klinik haben sie mir gesagt, du seist gleich nach Feierabend losgefahren.«
»Du hast in der Klinik angerufen?« Jans Stimme verriet einen gewissen Unmut. Übertrieb der gute Rudi es nicht ein wenig mit seiner Fürsorge?
Marenburg machte eine abwehrende Geste. »Nimm’s mir nicht übel. Es ist nur, dass jemand schon seit über einer Stunde versucht, dich zu erreichen, und es hört sich ziemlich dringend an.«
»Jemand hat für mich angerufen?«
»Ja, schon dreimal.«
Jan runzelte die Stirn. Wer sollte ihn hier zu erreichen versuchen? Die Einzige, die ihm einfiel, war Martina. Aber sie konnte es nicht gewesen sein. Weder wusste sie, dass er jetzt bei Rudolf Marenburg wohnte, noch hätte
sie sich bei ihm gemeldet, selbst wenn sie es gewusst hätte.
»Wer war es?«
»Keine Ahnung. Ein Mann. Ich hab ihn nach seinem Namen gefragt und ob ich dir eine Nachricht hinterlassen soll, aber er meinte nur, er würde später wieder anrufen. Als du dann nicht kamst, habe ich es auf deiner Station versucht. Der Pfleger meinte, du wärst schon seit einer ganzen Weile weg. Na ja, und weil die Straßen ziemlich eisig sind, hatte ich schon befürchtet, du hättest deine alte Kiste in den Straßengraben gesetzt.«
»Danke, Rudi. Entschuldige, wenn ich …«
»Da gibt es nichts zu entschuldigen«, sagte Marenburg und lächelte verständnisvoll.
»Ich war bei Amstner«, erklärte Jan, wie um etwas gutzumachen.
»Bei Hubert?« Marenburg war sichtlich überrascht.
»Ja, ich wollte mit ihm über Sven reden.«
»Und er hat mit dir gesprochen?«
Jan nickte. »Amstner hat damals etwas gesehen. Einen Wagen, der mit überhöhter Geschwindigkeit in Richtung Wald fuhr. Ich vermute, es war mein Vater, kurz vor dem Unfall. Zeit und Strecke würden passen. Und das macht mich fertig, Rudi. Das ist einer meiner Dämonen, von denen du gesprochen hast. Ich würde wirklich viel geben, wenn ich nur wüsste, wohin Vater in dieser Nacht unterwegs gewesen sein könnte.«
Rudolf Marenburg stieß einen tiefen Seufzer aus und kratzte sich am Kopf. »Tja, darüber habe ich mir auch schon oft den Kopf zermartert. Keine Ahnung, was ihn dazu getrieben hat, mitten in der Nacht und noch dazu bei diesem Schneetreiben in den Wald zu fahren.«
»Es kann doch nur mit Sven zu tun gehabt haben«,
sagte Jan. »Andernfalls wäre er nie aus dem Haus gegangen. Er wäre bei Mutter geblieben und hätte auf eine Meldung der Suchmannschaften
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