Kalte Stille - Kalte Stille
Ferien. Mir war klar, er meinte es ernst. Also machte ich ihm einen Vorschlag. Ich sagte zu ihm: Wenn du dich jetzt anziehst und wenigstens noch den Rest des Tages in der Schule durchstehst, dann komme ich heute Abend bei dir zu Hause vorbei und rede mit deiner Mutter. Die arme Frau hatte mit ihren drei Putzstellen eine Menge um die Ohren, und vielleicht hätte ihr ein wenig Unterstützung gutgetan, dachte ich. Notfalls hätte ich auch mit Christians Lehrern geredet, ich meine, so von Mann zu Mann. Na ja, es war 1984, und Fahlenberg war in gesellschaftlichen Entwicklungen noch nie ein Musterbeispiel des Fortschritts.«
»War Christian damit einverstanden?«
»O ja, das war er. Er hat sich gefreut, wie du und dein Bruder über diese gelbe Rangierlok. Aber dann kam alles ganz anders.«
»Was ist passiert?«
Wieder spuckte Amstner in den Schnee zu seinen Füßen.
»Es war so ein dummer Zufall, dass man darüber hätte lachen können, wenn es nicht so ein schlimmes Ende genommen hätte. Aber wenn einer tatsächlich darüber lachen konnte, dann nur der Teufel selbst.« Erneut
holte er den Flachmann hervor. Diesmal öffnete er mit zitternden Händen den Schraubverschluss. »Christian wollte sich also wieder anziehen, aber dann klemmte der verdammte Reißverschluss …«
Amstner trank, dann starrte er auf seine ausgetretenen Schuhe.
»Der Reißverschluss verhakte sich«, sagte er mit leiser Stimme. »Das Scheißding ging weder vor noch zurück. Christian wollte auf keinen Fall mit offenem Hosenladen in der Schule einlaufen, was ich in seiner Situation nur zu gut verstehen konnte. Also versuchte ich, ihm zu helfen, dieses blöde Ding zuzubekommen. Tja, und das war der gottverdammt größte Fehler meines Lebens.«
»Sie wurden dabei von Karl Lehmann beobachtet.«
Amstner stieß ein bitteres Lachen aus. »Ausgerechnet dieses Klatschmaul. Er hat mich nicht ausstehen können, seit ich ihm während unserer Schulzeit mal das Mädchen ausgespannt hatte. Tja, und das war dann sein großer Moment. Er …«
Amstner hielt inne, runzelte die Stirn und schüttelte dann den Kopf. »Nein, das ist falsch. Ich glaube nicht, dass er mir wirklich eins reinwürgen wollte. Für diesen kurzsichtigen Uhu muss es tatsächlich so ausgesehen haben, als ob ich dem Jungen …« Er machte eine abwehrende Geste, so als könnte er diese hässliche Vorstellung damit vertreiben. »Wie auch immer, eins kam zum anderen. Gerüchte sind erbarmungslos. Sie nisten sich in den Köpfen der Leute ein und machen es sich dort so lange bequem, bis sie für sie zu Wahrheiten werden. Keiner hat mir geglaubt. Nicht ein Einziger. Irgendwann nicht mal mehr meine Rosa. Dafür habe ich sie alle zum Teufel gewünscht.«
Amstner griff nach der Axt, die am Hackklotz lehnte,
holte weit aus und hieb dem Hasen den Kopf ab. Dann legte er den Körper in eine ausgeblichene Plastikwanne und bedeckte ihn mit dem Fell.
»Warum sind Sie nicht von hier fortgegangen? Sie hätten alles verkaufen und irgendwo anders einen Neuanfang machen können.«
Mit einem verbitterten Lächeln wandte sich Amstner zu Jan um.
»Wenn das wirklich so einfach gewesen wäre, hätte ich es getan, das kannst du mir glauben. Aber du bist bestimmt schlau genug, um zu begreifen, dass ich diesen Schwätzern dann erst recht Munition geliefert hätte. Weißt du, ein schlechter Ruf folgt dir überallhin. Den kannst du nicht einfach abstreifen wie einen Hundehaufen, in den du getreten bist.«
Er trat vor Jan, und wieder roch er den modrigen Gestank, den der Alte verströmte. Für einen Moment musste Jan an die alten Spukgeschichten denken, die er in seiner Jugend gelesen hatte. So mochten Wesen riechen, die zu keiner Welt mehr gehörten. Die Lebenden mieden sie, und für den Tod waren sie noch zu lebendig. Und so gehörten sie nirgendwohin und mussten ruhelos über die Erde wandeln.
Amstner tippte mit seinem hageren, blutverschmierten Finger auf Jans Brust, und Jan widerstand nur mühsam dem Drang, vor ihm zurückzuweichen.
»Die Welt ist klein, junger Mann, verdammt klein sogar. Überall findest du jemanden, der jemanden kennt, der deine Geschichte kennt. Und wenn er die falsche Version davon gehört hat, bist du am Arsch. Glaub mir, das ist so.«
Mit diesen Worten machte Hubert Amstner kehrt, nahm die Plastikwanne mit dem Hasen und ging zum
Hintereingang des Hauses, ohne sich noch einmal umzuwenden.
Jan sah Amstner nach, bis er im Haus verschwunden war, dann begab er sich zu seinem Wagen. Er war
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