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Kalte Stille - Kalte Stille

Titel: Kalte Stille - Kalte Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wulf Dorn
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ein Schwein gehalten, das es auf kleine Jungs abgesehen hat. Ausgerechnet mich! Kannst du dir auch nur für einen Moment vorstellen, wie weh so etwas tut?« Er spuckte neben sich in den blutigen Schnee. »Da führst du seit Jahr und Tag ein anständiges Leben und bist ein guter Christ, und dann kommen sie eines Tages und zeigen mit dem Finger auf dich. Behaupten, du seist ein Perverser, dem man den Schwanz abhacken sollte. Und der liebe Gott, dieser undankbare Scheißkerl, sieht tatenlos dabei zu. Seither kann er mich am Arsch lecken!«
    Amstner packte das Fell des Hasen und zog es mit einem heftigen Ruck nach unten. Mit einem Geräusch, das Jan an Paketklebeband erinnerte, wenn man es von
der Rolle abzog, rissen die Zwischenhäute am Körper des Tieres, und das Fell glitt von ihm ab wie ein Mantel.
    »Was ist damals wirklich geschehen?«, wollte Jan wissen. »Ich meine zwischen Ihnen und Christian? Warum hat man geglaubt, Sie seien zu so etwas fähig?«
    »Aha, davon hast du also gehört«, sagte Amstner. Er holte eine Zange aus seiner Jackentasche, löste mit blutigen Händen den Hasen vom Stalltor, ging zum Hackklotz und legte den Hasen darauf ab. Dann wischte er sich mit dem Jackenärmel einen Tropfen Rotz von der Nase und holte einen Flachmann aus seiner Jackentasche. Er nahm einen tiefen Schluck.
    »Ich glaube nicht, dass du das noch weißt«, sagte Amstner, »aber ich habe euch beide sehr gemocht, dich und den kleinen Sven. Erinnerst du dich noch an die gelbe Rangierlok im Schaufenster?«
    Jan musste nicht lange überlegen. Natürlich erinnerte er sich an die kleine Diesellokomotive, postgelb wie das Auto seines Vaters. Er und Sven hatten ihren Vater monatelang angefleht, sie ihnen zu kaufen.
    »Ja, genau. Es war ein Märklin-Modell. Wir wollten sie unbedingt haben.«
    »Weißt du auch noch, dass sie kurz vor Weihnachten zum Sonderpreis angeboten wurde?«
    Jan nickte. »Ja, das weiß ich noch sehr …« Er brach mitten im Satz ab. Auf einmal begriff er, worauf Amstner hinauswollte.
    »Ich dachte mir, wenn diese Lok an Heiligabend bei irgendjemand ihre Kreise ziehen soll, dann am ehesten bei euch beiden. Hättest eure Gesichter sehen sollen.« Ein flüchtiges Lächeln stahl sich auf Amstners Gesicht, ehe er in ernstem Ton weitersprach. »Alles, was ich dir
damit sagen will, ist, dass ich euch sehr gemocht habe. So, wie ich auch Christian gemocht habe. War ebenfalls ein lieber Junge. Ein bisschen zu weich für diese Welt, aber ein verdammt lieber Junge. Und dann traf ich ihn eines Tages am Weiher.
    Es war ein verflucht heißer Tag, und in meiner Werkstatt wäre sich selbst der Teufel wie im Backofen vorgekommen. Also nahm ich mir eine Stunde frei und wollte ein paar Bahnen schwimmen gehen. Als ich am Weiher ankam, traf ich Christian. Ich fragte ihn, weshalb er die Schule schwänzte, und da erst sah ich, dass er geheult hatte. Christian war zwar ein sensibles Kerlchen, aber er stammte nicht gerade von einem Schleusenwärter ab, wenn du verstehst, was ich meine.«
    Jan verstand sehr wohl. »Hatte er Probleme?«
    »Darauf kannst du wetten. Die schlimmsten Probleme, die ein Junge in diesem Alter haben kann, zumindest bevor er den ersten Liebeskummer durchstehen muss. Er fühlte sich von niemandem akzeptiert. Seine Mutter hatte nie Zeit für ihn, weil sie rund um die Uhr arbeiten musste. Sie hatte Christian viel zu früh bekommen. War bei der Geburt ja selbst noch fast ein Kind gewesen. Der Mistkerl von Vater hatte sich aus dem Staub gemacht. Und in der Schule wurde Christian nicht für voll genommen. Er fand keine Freunde.«
    »Außer Ihnen.«
    Amstner rümpfte die Nase. »Das ist kein Ersatz. Er war ein zierliches Kerlchen, um nicht zu sagen spindeldürr. Er machte sich nichts aus Fußball, wich Raufereien aus und vergrub sich lieber in seinen Abenteuerbüchern. Oder er half mir, die Hasen zu versorgen. Er verstand sich allerdings gut mit den Mädchen - ich meine natürlich auf die platonische Art. Die anderen Jungs machten
sich über ihn lustig. Sie veralberten ihn, klauten sein Fahrrad und warfen sein Pausenbrot ins Schulklo. Mehr erzählte er mir nicht, aber ich vermute mal, es war nicht immer nur das Pausenbrot.«
    Amstner holte wieder den Flachmann hervor, sah ihn an, steckte ihn dann aber wieder weg, ohne einen Schluck getrunken zu haben. »Na ja, langer Rede kurzer Sinn: Die Schule war für ihn die Hölle auf Erden, und er wollte nie wieder dorthin. Nicht einmal mehr für die letzten paar Tage vor den

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