Kalte Stille - Kalte Stille
Pracht gewesen. Die Blumenrondelle hatten auf dem kurzgeschnittenen Rasen wie bunte Inseln in einem grünen Ozean ausgesehen. An der Ostseite des Hauses hatte es einen kleinen Goldfischteich gegeben, den raschelndes Schilfgras umgab, und etwas weiter hinten hatte Jans Mutter Salat, Gemüse und Beerensträucher angepflanzt.
Seine Mutter liebte die Gartenarbeit, und es gab keinen Winkel, den sie nicht liebevoll bepflanzt und gestaltet hätte. Einmal hatte sie sogar den ersten Preis bei der alljährlichen Ausschreibung für Fahlenbergs schönste Gärten erhalten.
In diesem Jahr jedoch erinnerte nichts mehr an die einstige Pracht. Traurig betrachtete Jan das eingeknickte Spalier mit den verkümmerten Kletterrosen neben dem Eingang und den Rasen, der inzwischen so hoch stand, dass die brachliegenden Anpflanzungsinseln kaum mehr zu erkennen waren.
Seit nur noch Jan und seine Mutter übrig waren, hatte sich viel verändert. Nein, nicht nur viel , dachte Jan. Alles hatte sich verändert. Die verzweifelte Trauer hatte sie beide zu anderen Menschen werden lassen. Seine Mutter war nicht mehr dieselbe Person. Sie lachte nicht mehr, vernachlässigte ihr Äußeres, das Haus und den Garten.
Sie leide an einer schweren Depression, hatte ihm Raimund Fleischer erklärt. Er und Jans Vater waren nicht nur Kollegen, sondern auch enge Freunde gewesen. Fleischer hatte sich nach den tragischen Ereignissen um Jans Mutter gekümmert, mit ihr gesprochen, hatte ihr Tabletten verschrieben.
Zu Anfang war Jan noch mit den Depressionen seiner Mutter klargekommen. Er hatte ihr bei der Hausarbeit unter die Arme gegriffen und manchmal sogar für sie beide gekocht, wenn er von der Schule nach Hause kam. Er war abends bei ihr im Wohnzimmer geblieben, was er früher nur selten getan hatte, weil er sich lieber in seinem Zimmer in eines seiner Bücher vertieft hatte. Stattdessen hatte er sich nun mit ihr ihre Lieblingsserie angesehen: Die Schwarzwaldklinik . Doch auch die heile Welt des Dr. Brinkmann hatte sie nicht aus ihren düsteren Grübeleien holen können.
So sehr sich Jan auch bemüht hatte, er fand zu seiner Mutter keinen Zugang mehr. Nichts konnte sie aufheitern. Eine Kleinigkeit genügte, um sie in Tobsuchtsanfälle ausbrechen zu lassen.
Der tiefste Punkt war erreicht, als sich Jan eines Tages in Svens Zimmer geschlichen hatte, um sich eine Hörspielkassette zurückzuholen, die er seinem kleinen Bruder wenige Tage vor dessen Verschwinden ausgeliehen hatte. Seine Mutter hatte ihn dabei überrascht und war ausgerastet. Sie hatte auf Jan eingeschlagen, ihn angebrüllt, er solle sich »nie nie nie wieder« in diesem Zimmer blicken lassen.
Jan hatte solche Angst vor ihr bekommen, dass er aus dem Haus gelaufen war und sich erst spätnachts wieder heimgetraut hatte.
Im März hatten Jans schulische Leistungen dann so stark nachgelassen, dass sein Klassenlehrer, Herr Kaiser, Jans Mutter aufsuchte. Er sprach lange mit ihr, und am Ende der Unterhaltung hatten sie sich auf Jans Versetzung in ein Internat geeinigt. Der Lehrer hatte sich persönlich darum gekümmert, doch da es mitten im Schuljahr gewesen war, hatte er nur noch im weit entfernten Karlsruhe einen freien Platz für Jan gefunden.
Anfänglich war Jan alles andere als begeistert davon gewesen, doch Herr Kaiser hatte ihn davon überzeugen können, dass dies nur vorübergehend sei - nur so lange, bis es seiner Mutter wieder besser ging. Jan werde dort neue Freunde kennenlernen, hatte er versprochen, und der Abstand zu Fahlenberg werde ihm sicherlich guttun.
»Weißt du, Jan«, hatte Herr Kaiser gesagt und ihn sorgenvoll angesehen, »ich glaube, du brauchst diesen Abstand sogar sehr dringend. Du kümmerst dich aufopferungsvoll um deine Mutter, und das finde ich bewundernswert. Aber auf der anderen Seite denke ich, dass du damit auch versuchst, vor deinen eigenen Gefühlen davonzulaufen. Das ist nicht gut, Junge, denn irgendwann
werden dich diese Gefühle einholen, ganz gleich, wie sehr du sie jetzt leugnest.«
Und so besuchte Jan nun das Internat und kam jedes zweite Wochenende nach Fahlenberg. Er hatte in Karlsruhe tatsächlich Freunde gefunden, und es tat ihm gut, nicht mehr an sieben Tagen in der Woche mit den Auswirkungen der schlimmen Ereignisse zu Hause konfrontiert zu sein. Auch seine schulischen Leistungen hatten sich sehr gebessert. Jan gehörte jetzt wieder zu den Klassenbesten. Alles war so gekommen, wie es Herr Kaiser vorhergesagt hatte.
Nur bei Jans Mutter zeichnete sich
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