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Kalte Stille - Kalte Stille

Titel: Kalte Stille - Kalte Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wulf Dorn
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Wagner gehört«, wechselte die Schwester das Thema. »Schlimme Sache.«
    »Ja, wirklich schlimm.«
    »Wissen Sie, Dr. Forstner, seit ich davon erfahren habe, plagt mich ein schlechtes Gewissen.«
    Jan stellte seine leere Tasse neben der Kaffeemaschine ab und sah sie fragend an. »Warum das?«
    »Nun ja, ich weiß, es hört sich dumm an, aber man kann schließlich nicht aus seiner Haut heraus.« Sie
schaute verlegen zu Boden. »Ich habe den armen Kerl ziemlich angeschrien. Neulich, als wir ihn hier beim Einbruch erwischt haben. Na ja, und ich habe auch seinen Stationsarzt informiert, der ihn dann auf Station 9 hat verlegen lassen.«
    »Trotzdem trifft Sie keine Schuld an dem, was dort passiert ist.«
    Sie nickte. »Sicher, das weiß ich. So etwas kommt ja immer wieder mal vor. Ich wage gar nicht darüber nachzudenken, wie viele Patienten sich das Leben genommen haben, seit ich hier arbeite. Aber trotzdem mache ich mir jetzt Vorwürfe. Verstehen Sie das?«
    Noch bevor Jan etwas entgegnen konnte, platzte Norbert Rauh ins Zimmer. Er hatte hektische rote Flecken im Gesicht, offensichtlich war er gelaufen.
    »Vorwürfe?«, fragte er keuchend. »Wer macht sich Vorwürfe? Der Einzige, der sich hier Vorwürfe machen muss, bin ich, dass ich Sie so lange habe warten lassen.«
    Er begrüßte Jan mit einem kräftigen Händedruck. Seine Hände waren verschwitzt, obwohl er gerade aus der Kälte kommen musste.
    »Kommen Sie, Jan, gehen wir nach unten in mein Büro. Ich mache uns einen schönen heißen Tee.«
    »Klingt gut.«
    Jan folgte ihm über den Flur zum Treppenhaus. Als sie am Aufenthaltsraum vorbeikamen, wo die Patienten noch beim Essen saßen, sah er Sibylle. Die Patientin schaute zu ihnen heraus. Ihr entstelltes Gesicht war zu einem hässlichen Grinsen verzogen. Sie nickte Jan zu und fuhr sich dann mit dem Zeigefinger über die Kehle.
    Jetzt geht es dir an den Kragen .

33
    Dreiundzwanzig Jahre später hatte Jan längst vergessen, wie heiß es an jenem Freitag, den 19. Juli 1985, gewesen war. Er hatte vergessen, dass er eine Jeans, Turnschuhe und ein senffarbenes T-Shirt getragen hatte. Ebenso wie er sich nicht mehr an den schweren Rucksack mit Schmutzwäsche erinnert hatte, die er alle zwei Wochen zum Waschen mit nach Hause brachte. Doch Rauhs Hypnose holte all diese Details wieder in Jans Bewusstsein zurück.
    Wieder sah sich Jan am Fahlenberger Bahnhof stehen. Flirrende Spätnachmittagshitze hing in der Luft, und Jan hatte entsetzlichen Durst. Da der Unterricht an diesem Tag ein wenig länger als üblich gedauert hatte, war ihm keine Zeit mehr geblieben, sich in der Internatskantine mit Proviant zu versorgen, wie er es sonst immer tat.
    Und da die Zugverbindung von Karlsruhe nach Fahlenberg keine längeren Wartezeiten mit sich brachte, in denen er dieses Versäumnis hätte nachholen können, hatte sich Jans Zunge während der dreistündigen Bahnfahrt nach und nach in ein Stück trockenes Schleifpapier verwandelt.
    Als Jan in Fahlenberg ankam, hatte der kleine Kiosk neben dem Bahnhofsgebäude bereits geschlossen. Jan blieb nichts anderes übrig, als auch noch die knapp eineinhalb Kilometer Fußweg durchzuhalten und sich auf ein kühles Glas Limonade zu Hause zu freuen.
    Besser eine ganze Flasche, oder zwei, dachte er und machte sich auf den Weg.
    Kaum jemand war auf den Straßen unterwegs. Mit den heruntergelassenen Rollläden und Jalousien und den von Markisen verborgenen Schaufenstern schien ganz
Fahlenberg unter einer Dunstglocke drückender Hitze vor sich hin zu dämmern. Schwitzend quälte sich Jan die Steigung der Bahnhofsstraße empor, ging durch eine Seitenstraße, vorbei am Kino, wo er einen Blick auf das Riesenplakat von Roger Moore und Grace Jones warf, die für den neuen Bond-Streifen warben, und gelangte durch ein schmales Gässchen in den Stadtpark.
    Wie immer hielt er sich auf dem äußersten Weg am Rand des Parks, um nicht an der Bank am Ufer des Weihers vorbeizukommen. Auch wenn dort nun nichts mehr an jene eisige Nacht von vor sechs Monaten erinnerte und man von weitem schon das Lachen und Kreischen der badenden Kinder hören konnte, war es für Jan einfach unerträglich, die Stelle wiederzusehen, an der Sven verschwunden war.
    Schließlich kam er an Marenburgs Haus vorbei, sah, wie dieser gerade zwei Gießkannen zu seinen Gemüsebeeten trug, und winkte ihm grüßend zu. Dann ging er zum Gartenzaun seines Elternhauses und blieb seufzend stehen.
    Noch im vergangenen Jahr war dieser Garten eine wahre

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