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Kalte Stille - Kalte Stille

Titel: Kalte Stille - Kalte Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wulf Dorn
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keine Besserung ab. Daher wunderte sich Jan nicht über den randvollen Briefkasten, als er jetzt durch das Gartentürchen zum Haus ging. Er zog den Stapel Post heraus, ging den verwilderten Zugang zum Haus entlang und sperrte die Tür auf.
    Von den steinernen Bodenfliesen im Hausgang ging eine angenehme Kühle aus. Es roch nach etwas Süßlichem, und Jan dachte zunächst, dass seine Mutter ihm vielleicht einen Rhabarberkuchen gebacken hatte - das wäre in der Tat ein gutes Zeichen gewesen. Doch als Jan in die Küche ging, um sich ein kaltes Getränk aus dem Kühlschrank zu holen, platzte diese Hoffnung wie eine Seifenblase.
    Der süßliche Geruch, der ihn zunächst an Rhabarberkuchen erinnert hatte, stammte von einem Stapel schmutzigen Geschirrs, der neben dem Spülbecken stand. Jan sah einen Teller mit eingetrockneten Spaghetti, über die sich eine grünlich graue Schimmelschicht gelegt hatte, und erschrak. Bei seinem letzten Besuch hatte es Spaghetti gegeben. Mit Hackfleischsoße. Er hatte sie für sie beide gekocht. Wie immer hatte seine Mutter kaum
Appetit gehabt. Ihr Teller war noch halb voll gewesen, als er ihn in die Küche zurückgebracht hatte. Und da stand er noch immer. Neben den beiden Töpfen, in denen ebenfalls der Schimmel wucherte.
    Jan seufzte. Sie hatte sich in den letzten beiden Wochen also wieder zu nichts aufraffen können. Nicht einmal zu so kleinen Aufgaben wie Abwaschen, obwohl sie es ihm versprochen hatte. Und wahrscheinlich hatte sie sich in der Zeit danach von Konserven ernährt oder gar nichts gegessen. Innerhalb des letzten halben Jahres war sie klapperdürr geworden, und das, obwohl ihr Dr. Fleischer neben Antidepressiva auch Kapseln verschrieben hatte, die den Appetit anregen sollten.
    Jan trank zwei Gläser Leitungswasser - Limonade war keine im Haus -, dann trug er den Rucksack mit seiner Schmutzwäsche in den Keller und stopfte sie in die Waschmaschine.
    Im Haus war es totenstill. Sicherlich lag seine Mutter im Bett, wie meistens die Decke über den Kopf gezogen. Das Bett war ihr Rückzugsort, und wehe, man störte sie dort.
    Jan ging in sein Zimmer. Er packte seine Schulbücher aus, warf ihnen einen missmutigen Blick zu und dachte an den Englischtest, der ihn am Montagmorgen erwartete. Dann nahm er sich ein T-Shirt und eine kurze Hose aus dem Kleiderschrank und ging damit so leise wie möglich am Elternschlafzimmer vorbei zum Bad. Er musste unbedingt duschen nach der schweißtreibenden Bahnfahrt.
    Behutsam drückte er die Klinke der Badtür und …
    »Nein! Nein, ich will nicht!«
    »Doch, Jan, du willst! Du willst es erzählen. Lass es
heraus. Lass es endlich aus dir heraus. Nur so kannst du dich davon befreien.«
    »Nein. Ich kann das nicht.«
    »Doch, Jan, du kannst. Vergiss nicht, dass alles längst geschehen ist. Es ist die Vergangenheit, Jan. Sie kann dir nichts mehr anhaben.«
    »Aber … es … tut so … so weh!«
    »Was hast du im Bad gesehen, Jan? Sag es mir. Ich bin bei dir. Nichts wird passieren. Ich bin hier bei dir.«
    »Wirklich?«
    »Ja, ich halte deine Hand. Du musst nicht allein hineingehen. Also, sag mir, was du siehst.«
    »Ich … ich sehe …«
    Das Bad war voller Kerzen. Die meisten waren bis auf einen Stummel abgebrannt. Es sah aus wie in einer bunten Tropfsteinhöhle. Lange Wachstropfen hingen vom Waschbecken herab, vom Toilettendeckel, dem kleinen Tischchen neben der Wanne und vom Wannenrand.
    Manche Kerzen hatten dunkle Rußspuren auf den blauen Wandkacheln hinterlassen, andere schienen frühzeitig erloschen zu sein. Das musste am gekippten Fenster gelegen haben, durch das der Wind hereingeweht war.
    Angelika Forstner lag in der Wanne und starrte ihren Sohn aus leeren Augen an. Sie sah aus wie eines der Monster aus Jans Comic-Heften. Kopf, Hals und Schultern, die aus dem Wasser ragten, hatten eine merkwürdig gelbliche Färbung angenommen. Die Haut glich einem verschrumpelten Kinderballon, aus dem die Luft entwichen war. Über die Pupillen hatten sich milchige Schleier gelegt, als trage sie weiße Kontaktlinsen.
    Fliegen tummelten sich auf ihrem Gesicht. Sie krochen
ihr aus dem weit offen stehenden Mund, in die Nasenlöcher und in die Ohren oder schlüpften in das Gewirr ihres Haares. Es wirkte wie graues Stroh und hatte keinerlei Ähnlichkeit mehr mit den Steckfrisuren, die sie früher getragen hatte.
    Das Wasser in der Wanne glich purpurnem Glas, durch das Angelika Forstners aufgequollener Körper mit den durchtrennten Handgelenken zu erkennen war.

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