Kalte Stille - Kalte Stille
Immer wieder stiegen übelriechende Fäulnisbläschen zur Oberfläche, und Jan glaubte ein kaum wahrnehmbares Blubbern zu hören.
Er stand einfach nur da und starrte seine tote Mutter an. Er konnte nicht glauben, was er sah. Sein Kopf war leer, zu keinem Gedanken fähig.
Keine Gefühle. Nur Leere. Und Stille. Unerträgliche Stille.
Er sah das kleine Tischchen neben der Wanne. Sonst lagen zwei Handtücher und ein Buch darauf, daneben eine Tasse Tee. Doch nun standen dort Kerzen, und daneben lag das Küchenmesser, mit dem sie ihrem Leben ein Ende gesetzt hatte. Das Blut auf der Klinge war längst getrocknet.
Das Messer löste eine Reaktion bei Jan aus. Es war das Messer, mit dem er am Sonntag vor zwei Wochen noch Zwiebeln für die Spaghettisoße und Gurkenstückchen für den Salat geschnitten hatte.
Bestimmt hast du es vorher nicht einmal abgewischt, sagte eine Stimme in ihm, die sich so ganz und gar nicht nach seiner eigenen anhörte. Sie klang so … so wütend.
»Was macht dich wütend, Jan? Ist es das Messer? Liegt es daran, dass sie ausgerechnet dieses Messer dafür genommen hat?«
»Nein, nicht das Messer.«
»Was ist dann der Grund?«
Schweigen.
»Bist du wütend auf sie, weil sie sich umgebracht hat? Weil sie dich alleingelassen hat?«
»Ja, auch. Aber das ist nicht der eigentliche Grund.«
»Was ist es dann?«
»Es sind die Bilder.«
»Welche Bilder?«
Auf dem Tischchen neben der Wanne standen zwei gerahmte Bilder. Seine Mutter hatte sie so ausgerichtet, dass sie sie in ihrer zurückgelehnten Position gut betrachten konnte.
Jan ging darauf zu, obwohl er die Rahmen längst erkannt hatte. Er wusste, was sich auf den Bildern befand. Sie hatten bei seinem letzten Besuch noch unten im Wohnzimmer im Regal gestanden. Diese beiden Bilder und noch eines, das jetzt fehlte.
Jan rannen Tränen übers Gesicht, als er die beiden Bilder ansah. Das größere war das Hochzeitsfoto von Bernhard und Angelika Forstner. Das Brautpaar stand in verliebter Innigkeit inmitten eines herbstlichen Parks, und das weiße Kleid seiner Mutter leuchtete, als wolle es Jan blenden.
Auf dem zweiten Bild lachte ihm Sven entgegen. Es war an seinem fünften Geburtstag aufgenommen worden, gleich nachdem er die Kerzen auf seiner Torte ausgepustet hatte. Von Svens Bild ging eine Lebendigkeit aus, die Jan unheimlich war. Noch unheimlicher als die Leiche seiner Mutter in der blutgefärbten Wanne. Sven schien ihn auszulachen.
Jan war, als würde ihm sein vermisster kleiner Bruder
etwas zurufen - etwas, das ihm unsägliche Schmerzen bereitete.
Ein Bild fehlt!, schien er zu rufen. Ja, großer Bruder, ein Bild fehlt. Dein Bild!
»Sie hat mir die Schuld gegeben«, sagte Jan, als er sich von den Auswirkungen der Hypnose erholt hatte.
Er und Rauh saßen sich gegenüber und tranken Früchtetee. Rauh hatte geschwiegen und ihm Zeit gelassen, wieder in die Gegenwart zurückzufinden. Nun schüttelte der Therapeut den Kopf und sah Jan mit einem Blick an, in dem Mitleid, Ärger und Verständnis zugleich erkennbar waren.
»Keiner von Ihnen hatte Schuld, Jan. Weder Sie noch Ihre Mutter. Es war eine Verkettung tragischer Umstände, auf die keiner von Ihnen Einfluss hatte. Ihre Mutter hat Ihnen nur deshalb die Schuld gegeben, weil sie einen Verantwortlichen gebraucht hat. Sie hatte versucht, mit ihrem Schmerz umzugehen, und ist daran zerbrochen.« Er nippte an seiner Teetasse und stellte sie ab, ehe er weitersprach. »Sie haben sich die Schuld zuweisen lassen, Jan. Ist Ihnen das bewusst?«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Nun ja, Sie haben sich jedenfalls nicht dagegen zur Wehr gesetzt.«
»Nein«, sagte Jan und nickte. »Nein, das habe ich tatsächlich nicht.«
»Darf ich Ihnen eine Frage stellen?«
»Natürlich.«
»Gestern«, sagte Rauh und räusperte sich. »Gestern, bei dem Vorfall mit Alfred Wagner, haben Sie Ihr Möglichstes getan, um ihn von seinem Suizid abzuhalten. Was ist dabei in Ihnen vorgegangen?«
»Ich bin meiner ärztlichen Pflicht nachgekommen«, sagte Jan nach kurzem Überlegen.
Rauh bedachte ihn mit einem dünnen Lächeln. »War das wirklich alles?«
»Auf was wollen Sie hinaus?«
»Haben Sie nicht vielleicht auch eine Parallele zum Suizid Ihrer Mutter gespürt? Ich meine, wieder wollte sich jemand das Leben nehmen, nur dass sich Ihnen diesmal die Gelegenheit bot, es zu verhindern. Bei Ihrer Mutter waren Sie zu spät, aber bei Herrn Wagner war noch alles möglich.«
Wieder musste Jan überlegen. Dann nickte er.
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