Kalte Stille - Kalte Stille
»Ja, so gesehen haben Sie Recht.«
»Und was haben Sie Herrn Wagner gegenüber empfunden? Was wäre es für ein Wort, das Sie diesem Gefühl zuordnen würden?«
Jan stellte seine Tasse vor sich ab. »Verantwortung.«
Mit einem zufriedenen Nicken lehnte sich Rauh in seinem Stuhl zurück. »Und jetzt die alles entscheidende Frage, Jan: Kann es sein, dass Sie die Schuldzuweisung Ihrer Mutter mit Verantwortung verwechseln?«
»Sie meinen, dass ich mich für alles, was damals geschehen ist, verantwortlich fühle?«
Rauh nickte.
»Ja, kann schon sein.«
»Ich denke, es kann nicht nur sein, Jan, es ist so. Sie denken, weil Sie damals Ihren Bruder mit in den Park genommen haben, tragen Sie auch die Verantwortung für sein Verschwinden und alles Unheil, das dadurch ausgelöst wurde. Ihre Mutter hat Sie in diesem Denken noch bestärkt, indem sie sich das Leben nahm und dafür Sorge trug, dass Sie sie als Erster finden würden. Und dass Sie sofort das fehlende Bild entdecken würden.
Das Bild des - aus der Sicht Ihrer Mutter - Schuldigen.«
Rauh ließ seine Worte auf Jan wirken. Jan starrte auf die Teetasse. Auf einmal wurde ihm die Ähnlichkeit der roten Flüssigkeit in dem weißen Gefäß mit blutigem Wasser in einer Badewanne deutlich. Angewidert wandte er sich ab.
»Ja, ich fühle mich verantwortlich. Wenn ich Sven nicht mitgenommen hätte, wäre ihm nichts passiert.«
»Wirklich?« Rauh sah ihn mit einer gehobenen Braue an. »Vielleicht wäre Ihrem Bruder in dieser Nacht nichts passiert, aber vielleicht am nächsten Tag. Oder am übernächsten. Woher wollen Sie das wissen? Vor allem aber: Sven ist Ihnen aus freien Stücken gefolgt. Nicht, weil Sie ihn dazu eingeladen haben.« Er lehnte sich zu Jan vor. »Niemand kann einem Zwölfjährigen die Schuld an einem solchen Vorfall geben, Jan. Nicht Ihre Mutter und erst recht nicht Sie selbst. Ihre Mutter war krank, Jan, und das wissen Sie. Sind Sie nicht deshalb Psychiater geworden? Sie wollten andere heilen, weil Sie es bei Ihrer Mutter nicht geschafft haben, und Sie wollten andere verstehen, weil Sie den Täter nicht verstehen konnten, der all das Unheil über Sie und Ihre Familie gebracht hat.«
Rauh machte eine kurze Pause, dann legte er seine Hand auf Jans Schulter. »Lernen Sie endlich, zu Ihrer Wut zu stehen, Jan. Sie sind wütend auf Ihre Mutter, das haben Sie mir vorhin selbst gesagt. Doch da sie Ihre letzte Bezugsperson war und Sie sie nun ebenfalls verloren hatten, haben Sie Ihre Wut auf sie nicht zulassen können. Stattdessen leiteten Sie diese Wut auf sich selbst um. Dass Ihre Mutter aus der Blindheit ihrer Trauer heraus und vor lauter Verzweiflung gehandelt hat, konnten Sie nicht
mehr erkennen. Ihr Verlust war die größte Strafe, die man Ihnen hatte auferlegen können, und Sie waren zu stark davon betroffen - und auch zu jung -, um sich dagegen zur Wehr setzen zu können. Also glaubten Sie der Anschuldigung und verinnerlichten sie.«
Jan spürte, wie er am ganzen Leib zu zittern begann. Rauh hatte hinter den Vorhang seiner Besessenheit gesehen, und zeigte ihm nun, was er sich selbst nie anzusehen gewagt hatte. Rauh hatte Recht, aber noch wehrte sich alles in Jan gegen diese Erkenntnis.
»Aber ich …«
»Nein, kein Aber, Jan! Erkennen Sie endlich, wem die Wut tatsächlich gilt, die Sie seit mehr als zwanzig Jahren mit sich herumtragen. Sie gilt Ihrer Mutter!«
34
Wieder und wieder hatte Hieronymus Liebwerk um Hilfe gerufen und gegen die Tür geklopft. Vergeblich. Irgendwann hatte er sich schließlich damit abgefunden, die Nacht im dunklen Archivraum zubringen zu müssen. Spätestens wenn am nächsten Morgen der Mitarbeiter von der Poststelle vorbeikam, würde man ihn aus seiner misslichen Lage befreien. Glücklicherweise kam der am Samstag immer schon frühmorgens, um schnellstmöglich ins Wochenende gehen zu können.
Liebwerk ballte die Faust. Und dann gnade Gott demjenigen, der ihn hier eingeschlossen hatte.
Also hatte sich der Archivar eine einigermaßen bequeme Haltung auf zwei Kartons gesucht, sich noch eine
Weile seinen Rachegedanken hingegeben und war dann eingenickt.
Er träumte von dem Supermarkt, der sich nur wenige Gehminuten von seinem Haus entfernt befand, und von einer Großpackung Zigaretten, die ihm die dralle Blondine an der Kasse überreichte. Gleich darauf sah er sich vor dem Laden stehen und begierig einen der Glimmstängel anstecken.
Ein herrlicher Traum. Alles war so realistisch, dass Liebwerk glaubte, wirklich zu
Weitere Kostenlose Bücher