Kalte Stille - Kalte Stille
Meter von ihm entfernt vor den Aktenkartons am Boden.
Liebwerk atmete auf. Na also, er war doch nicht senil. Das Feuerzeug musste ihm vorhin aus der Tasche gerutscht sein, als er den Karton zu den anderen gestellt hatte.
»Alter Sack«, sagte er zu sich selbst und kicherte nervös. »Verrückter alter Sack.«
Er ging in den großen Archivraum, hob das Plastikfeuerzeug
vom Boden auf und hielt es gegen das Licht an der Decke. Es war noch halbvoll. Wäre schade drum gewesen …
In diesem Moment ging das Licht aus, und noch bevor Liebwerk recht begriff, wie ihm geschah, fiel die Tür zu.
Wamm!
Augenblicklich war es stockfinster.
»He!«
Erschrocken lief Liebwerk zur Tür und tastete nach der Klinke.
Für diesen Raum gab es nur einen Lichtschalter, und der befand sich außerhalb auf dem Flur - wer auch immer das geplant hatte, musste entweder einen schlechten Tag gehabt haben oder nicht ganz klar bei Verstand gewesen sein.
Endlich fand er die Klinke, doch als er sie niederdrücken wollte, hielt er sie auf einmal lose in der Hand. Für eine Schrecksekunde war er völlig verdutzt, dann packte ihn der Zorn.
»Altes Mistding!«, fluchte er und schlug gegen die Tür.
»He! Hilfe! Ich bin noch hier drin!«
Im anderen Raum konnte er Schritte hören, die sich von der Tür entfernten und plötzlich innehielten.
»Hallo, Paul, bist du das?«
Liebwerk horchte. Der Hausmeister hatte wohl angenommen, dass er bereits gegangen war. Aber warum antwortete Paul nicht? Wollte er ihm einen Streich spielen? Wäre nicht das erste Mal, dachte Liebwerk und erinnerte sich an die Schokoladenzigaretten, die ihm Paul vor einiger Zeit in seine Schachtel geschmuggelt hatte.
»Sehr komisch, wirklich sehr komisch, ha ha.«
Zornig stocherte er mit der Klinke am Türblatt herum und versuchte, sie zurück ins Schloss zu schieben. Doch
im Dunkeln war das alles andere als einfach, und gleich darauf fiel das Gegenstück im Vorraum scheppernd zu Boden.
»Paul, nun lass endlich den Unsinn und hilf mir! Die verdammte Klinke ist kaputt.«
Wieder hörte er die Schritte. Nein, das war nicht Paul Wisniewski. Spätestens jetzt hätte er geantwortet - und wenn auch nur mit einem Lachen.
»Wer ist denn da?«
Die Schritte entfernten sich noch ein Stück, ehe sie wieder verharrten. Papier raschelte.
»Aufmachen!«
Auf der anderen Seite der Tür blieb es still.
»Lassen Sie mich hier heraus«, wimmerte Liebwerk. »Ich kann Dunkelheit nicht ertragen. Bitte!«
Als er gleich darauf hörte, wie die Stahltür zum Gang geöffnet wurde, geriet der Archivar in Panik und schlug mit aller Kraft gegen die Tür.
»He! Jetzt reicht’s mir aber! Das ist kein Spaß mehr!«
Die Stahltür donnerte ins Schloss. Mit lautem Klicken rastete der Schnappmechanismus ein. Wer immer auch da draußen war, er hatte die Tür ordnungsgemäß zugezogen.
Verzweifelt hämmerte Liebwerk wieder gegen die Tür, wobei er die nutzlose Klinke zu Hilfe nahm. Er schrie, bis ihm die Stimme versagte, doch niemand kam. Keuchend tastete er nach einem Karton und ließ sich erschöpft darauf nieder.
Hier unten würde ihn niemand hören. Schon gar nicht nach Feierabend. Jetzt war das Verwaltungsgebäude leer. Er saß hier mutterseelenallein. Im Dunkeln. Und er hatte nicht einmal etwas zu rauchen.
32
Es war kurz nach 17 Uhr. Jan stand im Schwesternzimmer, trank eine Tasse Kaffee, die ihm eine Lehrschwester angeboten hatte, und wartete auf Dr. Norbert Rauh.
Auf dem Flur der Station 12 waren die Schwestern mit der Essensausgabe beschäftigt. Sie holten zwei schwere Metallwagen aus dem Aufzug, in denen das Abendessen durch die Versorgungstunnels der Klinik angeliefert worden war. Gleich darauf konnte Jan das helle Klappern von Besteck hören, das auf Plastiktabletts verteilt wurde.
Weiter entfernt vernahm er die Stimme einer Patientin, die sich darüber erboste, dass es schon wieder Wurst und Käse gab.
»Dafür müssen Tiere leiden«, hörte er sie schimpfen. »Das habe ich euch doch schon tausendmal gesagt. Doch siehe, spricht der Herr, es werden sich die Sklaven von ihrem Joch befreien und über uns herfallen. Dann werden sie uns fressen, so wie wir sie jetzt fressen! Sie werden sich an unseren Leibern gütlich …«
»Alles klar, Sibylle«, unterbrach sie die Stimme einer Schwester, »du willst also lieber Gemüsesuppe, richtig?«
»Ja. Ja, lieber Gemüsesuppe.«
Jan ging im Schwesternzimmer auf und ab und trank von seinem Kaffee. Er überlegte, ob er wieder gehen sollte. Er
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