Kalter Schlaf - Roman
ihren damaligen Erlebnissen.
Harry griff nach der nächsten Aufnahme und studierte sie einige Sekunden lang, bevor er die Angaben auf der Rückseite las.
»Dies ist Amélie Dijon, die junge Französin. Außer einem blauen Fleck am Kinn wieder nichts allzu Dramatisches, was das Gesicht betrifft. Seht ihr?«
Kate studierte das Foto. Dijons Unterlippe schien aufgeplatzt zu sein, und ihr Unterkiefer war deutlich angeschwollen. Sie konzentrierte sich wieder darauf, was Harry sagte.
»Dass Kenton-Smith oder sie weitere Verletzungen erlitten haben, ist eher unwahrscheinlich, sonst gäbe es mehr Fotos. Jetzt zu Suzie Luckman. Unter diesem Namen waren überhaupt keine Fotos zu finden.«
Kate fühlte, wie ihre Stimmung sich verdüsterte, als Harry weitersprach.
»Und dies hier …«
»Stört es dich nicht, Harry, dass es von Luckman keine Fotos gibt? Lässt das nicht darauf schließen, dass die Ermittlungsakten unvollständig sind?«
Er schüttelte den Kopf. »Nicht zwangsläufig, Kate. Häufig werden Akten zur Überprüfung vom Kronanwalt angefordert. Von dort kommen sie nicht immer vollständig zurück.«
»Aber nichts weist darauf hin, dass es im Fall Luckman jemals einen Verdächtigen gegeben hat. Warum sollte die Akte also …«
»Das weiß ich nicht, Kate. Dies hier ist …« Er las die Informationen auf der Rückseite, dann drehte er das Foto wieder um. »Tracey Thomas. Donnerwetter! Sieht ziemlich wild aus, was? Aber das liegt vielleicht nur am Make-up. Auch von ihr gibt’s keine weiteren Aufnahmen.«
Kate nahm Harry das Foto von Tracey Thomas aus der Hand und betrachtete es aufmerksam.
Eine junge Frau mit strubbeligem blondem Haar, die Augen dick schwarz umrahmt, die Wimpern stark getuscht. Kate empfand plötzlich Sympathie für diese junge Frau, die später bei einem Verkehrsunfall umgekommen war. Harry hatte inzwischen nach dem letzten Foto gegriffen.
»Dieses hier hat in Thomas’ Akte gesteckt, aber es stellt nicht unsere Tracey dar. Seht ihr? Der Nachname stimmt, aber der Vorname ist falsch. Weiß nicht, warum Jake die Aufnahme dazugelegt hat.«
Kate betrachtete das Foto neugierig. »Was ist ihr zugestoßen?«, fragte sie.
Harry drehte das Foto um, las die Angaben auf der Rückseite und zuckte mit den Schultern. »Nichts. Nur häusliche Gewalt.«
Kate nahm ihm das Foto aus der Hand. »›Nichts‹ ist doch wohl das falsche Wort, Harry«, sagte sie stirnrunzelnd.
Das Gesicht der Frau war mit Beulen und Blutergüssen bedeckt, und Kate vermutete, dass sie einen Nasenbeinbruch hatte.
»Ich habe ›nichts‹ in dem Sinn gemeint, dass sie keines unserer Vergewaltigungsopfer ist, Kate.«
Harry ließ sich die Aufnahme zurückgeben und betrachtete sie nochmals kurz.
»Bei näherem Hinsehen muss ich dir recht geben. Sie ist schwer misshandelt worden. Das kommt von der jahrelangen Arbeit als Spurensicherer, Kate. Wir sehen so viele grausige Dinge, dass wir abstumpfen, okay?«
Kate nickte knapp. »Könntest du mit Jake nach irgendwas über Suzie Luckman suchen, sobald du wieder im Dienst bist, Harry? Irgendwo hier haben wir das Datum, an dem sie vergewaltigt worden ist.«
»Mach dir keine Sorgen. Julian hat mir alles Nötige zusammengestellt. Sie steht auf meiner Liste ganz oben.«
Er sah sich in dem Raum um. »Okay, Leute, ich muss weiter! Braucht ihr noch was, könnt ihr euch an mich wenden – oder es Julian sagen, damit er’s weitergibt. Jules, alter Freund, wir sehen uns kommende Woche beim Prüfungsmodul Spurensicherung, ja?«
Harry hob die rechte Hand, und Julian sprang auf, um abzuklatschen. Als Harry die Tür erreichte, kam Joe von draußen herein.
Bernie schüttelte langsam den Kopf und sah dann, dass Kate ihn anfunkelte.
»Was? Ich kann nichts dafür, dass er so affektiert lispelt.«
»Spiel bloß nicht den Harmlosen!«, fauchte Kate ihn an. »Das können andere besser. Solche Kommentare sind reine Homophobie. Und außerdem …«
»Schon gut, schon gut! Wieso bist du plötzlich so kratzbürstig? Und was ist mit ihm?« Er zeigte auf Julian, der wieder mürrisch dahockte.
Kate musterte Julian, dann runzelte sie die Stirn.
Bernie schüttelte erneut den Kopf. »Komm, wir sehen uns genauer an, was sie für uns ausgegraben haben«, schlug er vor.
Kate schloss sekundenlang die Augen, dann betrachtete sie wieder die Fotos.
Sie hatten nichts über Luckman gefunden. Gar nichts.
Seit sie nun einige Fotos von Vergewaltigungsopfern hatten, begann in Kates Kopf eine Idee zu reifen, die mit
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