Kalter Schmerz
ohne den Blick von Clare abwenden zu können.
»Woher kommt der?«, fragte ich und wies mit dem Kopf auf ihren blauen Fleck.
Wie Pat überhörte sie die Frage, setzte sich wieder, rieb sich die Augen.
»Ich kannte die meisten ihrer Freunde – auf jeden Fall die Mädchen und Danny«, sagte sie.
»Auch einen Kyle?«
»Nein.«
»Einen Matt?«
»O Gott, können Sie bitte einfach … aufhören?«
Ich hörte auf.
»Ich würde ja gerne sagen, dass sie etwas … gesagt hat, aber ich … ich kann mich nicht erinnern. Entweder kann ich mich nicht erinnern, oder sie hat wirklich nie was gesagt.« Clare zuckte mit den Schultern, und ihr Blick wurde wieder glasig. »Bitte fragen Sie nicht weiter.«
Ich betrachtete das Foto. Es war eine Aufnahme von Emma, die mir nicht gefiel. Da war so ein Zug um ihre Augen, eine berechnende Zuversicht, die ich nur zu gern Pat zuschrieb.
»War Emma glücklich?«, fragte ich beunruhigt. »Machte sie einen glücklichen Eindruck?«
»Was meinen Sie damit?«
»Na ja, ob sie glücklich war.«
»Sie war … normal.«
»Ja, aber war sie auch glücklich?«
»Sie war zufrieden .« Clare begann, an ihren Fingernägeln zu kauen.
Mein Blick wurde von der seltsamen Skulptur neben dem Regal angezogen, wo das Foto gestanden hatte. Eine Weile fesselte sie meinen Blick, so als würde ein Kopf oder ein Gesicht auftauchen und ihr Sinn verleihen, doch das Stück über dem Hals blieb nichtssagend leer.
»Also haben Sie heute Pat getroffen?«, fragte sie.
Ich nickte, und mir fiel auf, dass ich die beiden nur einmal zusammen gesehen hatte.
Sie begann zu lachen, ein hohes, launisches Geräusch. Einige Tränen suchten sich ihren Weg über die Wangen, und ich hatte die flüchtige Vorstellung, dass ich das Zimmer durchquerte und die Tränen wegwischte.
»Wissen Sie, es ist nicht seine Schuld«, sagte sie. »Er hat es einfach nicht unter Kontrolle.«
Bei den Worten wurde mir schwindelig vor Hass.
»Es stört ihn, wenn er etwas nicht unter Kontrolle hat«, fuhr sie fort. Ihr Rock hatte sich bis zu den Oberschenkeln hochgeschoben, sie zog ihn herunter.
»Das ist keine Entschuldigung«, sagte ich in dem Bewusstsein, dass ich eine Grenze überschritt.
»Was wissen Sie denn schon?«, fuhr sie mich an und stand auf. »Gott, ihr seid doch alle gleich! Warum bilden Sie sich ein, dass Ihre Meinung so wichtig ist?«
»War Emma glücklich?«
»Wer ist verdammt noch mal glücklich?« Wieder lachte sie.
Ich wollte nichts heraufbeschwören, ich war schon so angespannt genug. Aber irgendwie konnte ich nicht anders. Ich stellte das Foto beiseite und stand ebenfalls auf.
»Warum war Emma nicht glücklich?«
Sie winkte die Frage beiseite. »Sie wissen überhaupt nichts.«
»Ich weiß, dass das, was Sie tun, total abgefuckt ist.«
»Halten Sie den Mund!« Sie trat vor, ihr Gesicht an meinem, und zischte: »Sie wissen gar nichts über mich.«
»Ich weiß, dass Sie sich selbst belügen.«
Die Ohrfeige kam unerwartet und brannte wie die Hölle. Reflexartig hob ich die Hand, um mich zu wehren, dann hielt ich beschämt inne.
»Willst du zurückschlagen, Nic?« Sie atmete schwer, als würde sie sich, wenige Zentimeter vor mir, auf den Schlag vorbereiten. »Würde dir das Spaß machen?«
Es klang wie das verlockendste Angebot der Welt, und ich fühlte mich schwach, hatte mich nicht im Griff. Ihre Augen waren groß, flehten mich um etwas an. Ich konnte mich nicht von ihr lösen, kam nicht zu Atem. Sie legte den Kopf schräg, und ihr Blick war voller Verachtung.
»Hab ich auch nicht gedacht«, sagte sie mit einem Lächeln. »Dir muss man Geld geben, damit du hilfst, nicht?«
Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte.
Sie drehte sich um und setzte sich, bohrte sich die Finger in die Schläfen.
»Raus!«, sagte sie.
Bevor ich ging, reichte ich ihr das Foto, das sie aus dem Regal genommen hatte, aber sie würdigte es keines Blickes.
Sie schaute mir nach, bis ich draußen war.
Ich hatte acht Anrufe in Abwesenheit von Harriet und drei von meinen Eltern. Zurück im Auto, rief ich meine Schwester an, aber ich wusste eh, was sie sagen würde. Auf gewisse Weise wartete ich schon seit Jahren darauf und hatte das Gefühl, bereits im Voraus um meinen Bruder getrauert zu haben.
Regen prasselte auf die Windschutzscheibe, ich stellte den Motor aus.
Harriet meldete sich beim vierten Klingeln, sie klang leer.
Es gab eine unangenehme Pause, weil wir beide abwarteten; ich sollte es erahnen beziehungsweise sie es
Weitere Kostenlose Bücher