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Kalter Schmerz

Kalter Schmerz

Titel: Kalter Schmerz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanna Jameson
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hatte sie irgendwann mal betrunken aus einem Hauseingang gestohlen und war mit der Figur im Arm auf unserer Treppe eingeschlafen. Seitdem wurde sie jedes Jahr zu Weihnachten hervorgeholt, und wenn man hinten einen Schalter umlegte, begann sie zu tanzen.
    Harriet schien leise vor sich hin zu zählen, ihre Lippen bewegten sich kaum merklich.
    »Das Geschäft läuft super, ich brauche kein Geld.«
    »Geschäft?« Er sah mich mit erhobenen Augenbrauen an. »War das also gestern so dringend?«
    »Ähm, ich musste mich mit einem Kunden treffen. Das kann man nicht einfach absagen …«
    »Ich bin kein Dummkopf, Junge.« Er nahm einen Schluck aus seinem Glas, wahrscheinlich Brandy, und spähte über den Rand. »Versteh mich nicht falsch, wir haben immer gestaunt, dass du so viel aus dir gemacht hast, aber erzähl mir nichts vom Geschäft. Ich kenne das Geschäft.«
    Nach einer Pause, die zu unterbrechen mir die Kraft fehlte, zeigte er wieder auf mich.
    »Wohnst du immer noch mit diesem … ›Kollegen‹ zusammen?«
    »Mit Mark? Ja, ja, das ist immer noch mein Mitbewohner.«
    Er schüttelte den Kopf. »Hm … das ist komisch.«
    »Was?«
    »In deinem Alter, immer noch wie ein … ein Student zu leben. Ist das nicht komisch? Denke doch nicht nur ich. Es ist sonderbar.«
    »Warum?«
    »Na, so langsam müsstest du doch allein leben oder mit … einer Frau? Liegt das daran, dass du nicht zur Universität gegangen bist, dass du jetzt so lebst?«
    »Hör mal, Dad, nur weil ich über fünfundzwanzig bin, heißt das noch lange nicht, dass es für mich nur die Möglichkeit gibt, allein oder mit einer Freundin zusammenzuwohnen. Warum kann ich nicht mit einem Freund zusammenwohnen? Das machen alle möglichen Leute.« Ich schaute zu Harriet hinüber, wollte sie einbeziehen, um den Druck ein wenig zu verteilen. »Was meinst du, Harri?«
    Sie starrte mich an, verlegen von der Aussicht, etwas sagen zu müssen.
    »Ähm … also, Mark scheint ganz cool zu sein«, sagte sie.
    Dad hob die Brauen, ich schloss verzweifelt die Augen.
    »Nicht jeder muss nach deiner Vorstellung leben, Dad«, sagte ich und hörte, wie Mum in der Küche herumklapperte. Ich fragte mich, ob einer von uns über Tony sprechen würde, den eigentlichen Grund, warum ich hier war.
    »In deinem Alter war ich schon verheiratet, und dein Bruder konnte schon lesen.«
    »Hm …« Darum bemüht, eine passende Antwort zu finden, lief ich rot an. »Tut mir leid, dass ich das verpasst habe.«
    Es war unheimlich, wie er es immer wieder schaffte, mir das Gefühl zu geben, ein Stück Dreck zu sein, nur weil ich ihm nicht ähnlicher war. Ich rief mir all die Gründe in Erinnerung, warumich ihn hasste, warum Harriet ihn hasste, und fühlte mich dennoch ausgeliefert, überwältigt angesichts seiner unbarmherzigen Enttäuschung.
    »Ich geh raus, eine rauchen.« Ich nestelte das Päckchen aus meiner Jacke, schaute ins Nichts.
    »Draußen«, sagte er.
    »Ich weiß … deshalb habe ich ja ›raus‹ gesagt.«
    Ich verschwand durch die Glastür ins Esszimmer und durch die Hintertür nach draußen. Vom Dach des Schuppens in der Ecke lief Wasser, obwohl es eine Zeitlang aufgehört hatte zu regnen. Meine Hände zitterten. Ganze Nächte lang hatte ich mir vorgestellt, wie ich ihm ins Gesicht schlug, aber ich hatte es nie getan und würde es wohl auch nie tun.
    Als ich die Zigarette anzündete, ging die Tür hinter mir auf, und Harriet kam mit einer Selbstgedrehten heraus. Sie hatte sich aus gegebenem Anlass schick gemacht, das Haar zurückgebunden.
    »Ziehst du hier einen durch?«
    »Das ist normaler Tabak, kein … Lachtabak.«
    »Du siehst gut aus.«
    Sie zuckte mit den Schultern.
    »Kommen die beiden klar?«, fragte ich.
    »Nein. Nein, in Wirklichkeit nicht. Sie versuchen es nur zu überspielen, denke ich. Zumindest Mum hat gestern geweint und so, aber Dad, der ist einfach nur verdammt …« Sie machte eine vage Geste. »Ich weiß es gar nicht. Er ist einfach genauso scheiße wie sonst auch.«
    »Hab immer gesagt, wir haben das Reden von Mum geerbt.«
    »Aber das ist doch auch besser, oder? Über alles reden? Ich meine, mir ist es lieber so als … wie er. Ich fände es ätzend, wenn die Leute sich ständig fragen müssten, was ich denke.«
    Schweigen.
    »Mann, er ist so ein Riesenarschloch«, sagte sie und blies ein paar Rauchkringel aus.
    Wir sahen uns beide an und mussten lachen. Einen Augenblick lang fühlte ich mich fast jung, aber als ich den Ausdruck in ihrem Gesicht bemerkte, hielt ich

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