Kalter Zwilling
fielen zu Boden. Christan rollte sich auf seinen Bruder und presste seine Knie fest auf die Arme von August.
»Was hast du mit ihm gemacht? Sag es mir, August!«
»Ich habe gar nichts gemacht. Er ist einfach ausgerissen. Woher soll ich wissen, wo er jetzt ist?«
»Das glaube ich dir nicht!«
Wild wälzten sich die beiden im Gras. Christan holte aus und schlug August mit voller Wucht seine Faust ins Gesicht. Augusts Lippen platzten auf und Blut lief seinen Hals hinab.
»Verdammt Christan, jetzt hör auf!« August atmete hektisch. »Ich gebe es zu. Ich habe ihn fortgeschafft. Es tut mir leid.«
Christan ließ auf der Stelle von ihm ab. »Ich wusste es.« Seine Stimme klang traurig. »Es ist immer das Gleiche mit dir, August.« Er stand auf und wollte gehen, doch August hielt ihn am Arm fest. »Ich mache es wieder gut, versprochen.« Wütend stieß Christan den Arm von sich. »Wie oft hast du das schon versprochen, August?«
»Christan, ich wollte dir nicht weh tun. Ich konnte einfach nicht anders.«
»Gib es zu, er ist der Welpe, den man am Krötschenturm gefunden hat, oder?« August blickte stur nach unten. Christan baute sich vor ihm auf und ergriff seine Kehle. »Du hast ihn zerstückelt, du Mistkerl!« Christan spuckte vor Wut aus. »Wie konntest du das tun? Es war doch nur ein kleiner, hilfloser Welpe! Warum bist du nur so bösartig? Wie kannst du mein Zwillingsbruder sein?« Er drückte zu, mit aller Kraft, die er hatte. August röchelte leise, wehrte sich jedoch nicht. Christan spürte, wie die Wut in ihm tobte. Am liebsten hätte er seinem Bruder ein für alle Mal den Garaus gemacht. Aber er konnte es nicht. Sein Gewissen hielt ihn davon ab. Mit lautem Schluchzen ließ er August los und sank weinend auf die Knie.
August schnappte nach Luft und setzte sich auf. Sanft nahm er seinen Bruder in die Arme. »Es tut mir leid. Ich wollte das nicht. Da ist etwas in mir, dass ich nicht beherrschen kann. Glaub mir, wenn ich gekonnt hätte, ich hätte es aufgehalten.«
»Lass mich in Ruhe, ich will dich nie wieder sehen!« Weinend sprang Christan auf und rannte davon. Für einen Moment fühlte August etwas, das er nur ganz selten empfand: Reue. Sein Herz pochte und er konnte es mit jedem Schlag spüren. Er bereute seine Tat um Christans Willen. Vielleicht war er doch noch nicht verloren! Er würde es wieder gut machen!
...
»So sei doch leise, Wernhart!« Bastian wisperte aufgeregt in die schwarze Nacht hinein. Sie hatten ihn kreuz und quer durch die ganze Stadt gejagt, doch der Schatten wollte nicht stehen bleiben. Rastlos zog er durch die Nacht. Sie waren am Krötschenturm gestartet, im Nordwesten von Zons. Nachdem sie dreimal die Gasse »Hohes Örtchen« rauf- und runtergeschlichen waren, hatte sich der Bucklige entschieden, die Zehntgasse in Richtung Juddeturm hinaufzueilen.
Trotz seines gekrümmten Rückens, der einen schaurigen Buckel auf seinen Schultern entstehen ließ, bewegte sich Gilig geschmeidig und zügig vorwärts. Die Beschreibung des Knaben passte genau auf ihn. Er lief tagein, tagaus in einer schmuddeligen schwarzen Kutte herum. Zwar hätte die Beschreibung auch auf jedes Mitglied der St.-Sebastianus-Schützenbruderschaft gepasst, aber der junge Tilmann hatte darauf bestanden, dass es sich um einen kleinen Mann mit einem Buckel handelte.
Ein wenig zweifelte Bastian an den Worten des Burschen. Schließlich hatte er drei Finger verloren und war nur um ein Haar dem Tod entgangen. Der Junge wirkte auch zwei Tage nach dem Überfall noch völlig durcheinander. Teilweise erzählte er wirres Zeug. Dies war dem Fieber zuzuschreiben, das trotz der Behandlung des Arztes Josef Hesemann den armen Jungen heimgesucht hatte.
Einen ganzen Tag lang weigerte Tilmann sich, zu essen und zu trinken. Sein Körper war mittlerweile so ausgemergelt, dass seine Mutter Pfarrer Johannes zweimal am Tag zum Gebet einbestellte. Josef Hesemann jedoch war zuversichtlich. Die Wunde heilte trotz des Fiebers ordentlich. Sie war sauber und das Fleisch war an den Stümpfen nicht schwarz verfärbt. Für ihn war das Fieber eine natürliche Reaktion auf die Amputation der Finger. Solange es nicht über viele Tage anhielt, hielt Josef es nicht weiter für gefährlich.
»Dort, siehst du das?« Wernhart, Bastians bester Freund und ebenfalls Mitglied der Zonser Stadtwache, hielt ihn am Ärmel fest. »Was sucht er dort an der Mauer?«
Die Stadtmauer von Zons war riesig. Sie bestand aus drei Meter hohem Felsgestein, und
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