Kalter Zwilling
Auto saß, presste Oliver die Hände an seine pochenden Schläfen. Die Kopfschmerzen waren wieder stärker geworden. Verflucht, er würde wohl eine weitere Aspirin einwerfen müssen.
...
Fasziniert betrachtete Kevin die schlanken Handgelenke der Leiche. Er liebte den Anatomiekurs. Während seine Studienkollegen bleich auf den toten Körper starrten und mit Erschütterung beobachteten, wie der Professor die einzelnen Muskelstränge der Hand und des Unterarmes offenlegte, war Kevin aufgeregt wie ein kleines Kind an seinem Geburtstag. Gleich würde der Professor einen von ihnen auffordern, seine Arbeit fortzuführen. Kevin wollte unbedingt dieser Freiwillige sein. Nervös richtete er sich auf und versuchte sich in die Blicklinie des Professors zu bringen.
Endlich hob dieser den Kopf und blickte prüfend in die Runde der blassen Studenten.
»Nun, meine Damen und Herren, Sie werden sich an den Anblick und den Geruch des Todes gewöhnen müssen. Der Tod gehört zum Leben. Er ist genauso unverzichtbar wie die Mutter für ein Kind oder Gott für einen Gläubigen.«
Er machte eine längere Pause und begutachtete jeden einzelnen seiner Studenten. Die Hälfte von ihnen wird es nicht schaffen, dachte er, während sein Blick über die verschreckten Gesichter wanderte.
»Der Tod ermöglicht uns die Studie am menschlichen Körper. Nur wenn wir den Aufbau unseres Organismus im Detail verstehen, können wir ihn heilen. Gäbe es keinen Tod, hätten wir nie die Gelegenheit zur Forschung. Vielleicht hilft Ihnen das, diesem Anblick hier etwas Positives abzugewinnen.« Erneut schaute er in die Runde. Sein Blick blieb an Kevin hängen. Dieser Junge machte einen unerschrockenen Eindruck. Er schien äußerst wissbegierig zu sein. Die Leiche und ihr Geruch schienen ihm nichts auszumachen, zumindest wirkte er nur halb so blass wie die anderen. »Sie da vorne«, er deutete mit dem Finger auf Kevin, »wie ist Ihr Name?«
»Kevin«, antwortete dieser mit rauer Stimme.
»Nehmen Sie das Skalpell und führen Sie fort. Ich möchte, dass Sie hier direkt unter der Schulter ansetzen und die Haut sowie das subkutane Fettgewebe entfernen. Dann können wir uns die Muskelfunktionen des Unterarmes und Handgelenkes genauer ansehen.« Er reichte Kevin das Skalpell. Dieser nahm es ehrfurchtsvoll entgegen. Sein Herz pochte bis zum Hals, seine Kehle fühlte sich plötzlich rau und ausgetrocknet an.
Geschickt setzte Kevin die scharfe Schneide auf der Haut an. Die Totenstarre war bereits vorüber und er konnte ohne Probleme einen langen, geraden Schnitt ausführen. Anschließend klappte er die Haut auseinander und zog sie jeweils zur Seite ab. Innerhalb weniger Sekunden hatte er den kompletten Unterarm freigelegt und schnitt routiniert durch die ihm bekannten Strukturen.
Der Professor nickte anerkennend. »Haben Sie so etwas schon einmal gemacht? Das ist hervorragende Arbeit, die Sie hier zeigen.«
Kevin zögerte, dann schüttelte er den Kopf. »Nein«, antwortete er. »Ich habe so etwas noch nie gemacht.« Unmerklich überzog eine zartrosa Farbe sein Gesicht, doch der Professor schien es nicht zu bemerken und fuhr ohne Unterbrechung in seinen Erläuterungen über die Unterarmmuskulatur fort.
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V.
Vor fünfhundert Jahren
Endlich. Die Falle hatte zugeschnappt. Stundenlang hatte er geduldig hinter der alten Weide gelauert. Die Sonne schien jeden Tag hell und die prallen Blaubeeren drohten zu verderben. Fast schon hatte er aufgegeben, als dieser junge Bursche tapsig und naiv in die Falle ging. Er liebte Jungs. Ihre Körper waren viel fester, als die der Mädchen. Sobald sie zu Frauen heranwuchsen, verlor der Körper jegliche Straffheit. Ihre Brüste wabbelten herum und ihre Hintern hingen schlaff über den Knochen.
Bei Jungen war das anders. Ihre Körper wurden mit dem Alter immer härter und strammer. Je mehr sich die Muskulatur ausprägte, desto attraktiver fand er sie. Feste Rundungen schürten die Lust in seinem Inneren und ließen ihn zwischen den Beinen hart werden. In seiner Fantasie berührte er sie, während sie ihm auf dem Bauch liegend ihren Hintern bereitwillig entgegenstreckten. Er schüttelte diesen lüsternen Gedanken ab. Ja, die Falle hatte zugeschnappt. Aber sein Opfer war viel zu jung.
Der Bursche war so weich wie ein Baby, vielleicht acht Jahre alt. Er hätte sich mit ihm zufriedengegeben, aber der Kleine war ihm in einem unachtsamen Moment entkommen. Unglücklicherweise hatte er ihn nicht wieder
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