Kalter Zwilling
bisher hatte kein Feind die mit Basaltsteinen verstärkte Bewehrung überwinden können. Die gesamte Architektur der Festungsmauern entsprach dem neuesten Stand der Baukunst. Die Stadt war - da waren sich die Zonser allesamt einig - uneinnehmbar.
Die Mauer glich einem überdimensionalen Trapez und erstreckte sich ungefähr 300 Meter in Nord-Süd-Richtung und 250 Meter in West-Ost-Richtung. An den Eckpunkten war sie durch Wachtürme verstärkt: nordöstlich der quadratische Rhein- oder Zollturm, nordwestlich der runde Krötschenturm, südwestlich der runde Mühlenturm und an der südöstlichen Ecke stand der Schlossturm. Der runde Juddeturm erhob sich hingegen innerhalb des Städtchens neben dem Schloss Friedestrom.
Gerade machte sich der bucklige Gilig an den Steinen der östlichen Mauer zu schaffen. Er stand direkt unter einer der Pfefferbüchsen. So wurden die kleineren Wehrtürme scherzhaft von der Bevölkerung bezeichnet, denn sie waren im oberen Teil mit Fenstern versehen, aus denen bei einem Überfall auf die Stadt allerlei Gestein und Pech auf die Angreifer hinuntergeworfen oder »gepfeffert« werden konnten.
Der Kölner Erzbischof Friedrich von Saarwerden hatte sehr viele Gulden in die Errichtung der Festung fließen lassen. Er hatte Zons zu wirtschaftlicher Blüte verholfen, indem er anno 1372 den Rheinzoll aus Neuss nach Zons verlegt hatte. Ein Jahr darauf waren dem Ort sogar die Stadtrechte verliehen worden.
Was zum Himmel trieb der Bucklige hier mitten in der Nacht? Bastian konnte sich kaum vorstellen, dass Gilig mit bloßen Händen aus dieser stabilen Mauer Steine stehlen wollte. Er spähte angestrengt ins Dunkel und sah, wie Gilig etwas aus der Mauer hervorholte und unter seinem Wams verbarg.
Bastian stieß Wernhart an. Sie mussten sich aufteilen, wenn Gilig ihnen nicht entwischen sollte. Bastian wollte ihn auf frischer Tat ertappen, bevor er sein Diebesgut einfach abwerfen konnte. Ohne Beweise konnten sie den Buckligen nicht in den Juddeturm werfen.
Während Wernhart sich dicht hinter Gilig hielt, schlich Bastian um den Juddeturm herum und anschließend die Mühlenstraße hinauf. Sicher wollte der Bucklige durch das Feldtor die Stadt verlassen. Zwar war zu dieser Stunde das große Tor verschlossen. Durch einen kleinen Gang hindurch konnte man von der Stadt her kommend jedoch auch bei Nacht das Tor passieren. Genau an dieser Stelle wollte Bastian Gilig auflauern.
Er postierte sich unauffällig an einer Häuserwand. Lange warten musste er nicht. Gilig kam schnellen Schrittes auf ihn zu, dicht gefolgt von Wernhart. Bastian wartete, bis der Bucklige genau auf seiner Höhe war, und löste sich dann aus dem Schatten. Erschrocken blieb Gilig stehen und ließ einen Leinensack fallen. Klimpernd rollten ein paar Münzen über die Straße. Schnell bückte er sich und sammelte sie wieder ein.
»Was sind das für Münzen? Woher habt Ihr sie?«, fragte Bastian mit strenger Stimme.
Gilig stotterte unverständlich und wagte nicht, den Blick zu heben. Er zitterte unkontrolliert am ganzen Körper. Bastian wiederholte seine Frage etwas freundlicher. Gilig hatte Angst, das war unschwer zu erkennen. Bastian wusste, dass er von Gilig keine Antwort bekommen würde, wenn er ihn noch mehr unter Druck setzte. Wernhart hatte bereits seinen Dolch gezückt, um ihn Gilig an die Kehle zu pressen, doch Bastian gebot ihm mit einer Geste Einhalt.
Der Bucklige hob erneut an: »Münzen für die Bruderschaft.« Zum Beweis griff er in seinen Leinensack und hielt Bastian ein Geldstück unter die Nase.
Bastian betrachtete die Münze. Im Dunkeln glaubte er, die Deutzer Prägung zu erkennen. Er wusste, dass Gilig hin und wieder Botengänge für die Bruderschaft übernahm. Der Bucklige verdiente seinen Lebensunterhalt mit allerlei einfachen Diensten. Trotzdem war es merkwürdig, dass Gilig mitten in der Nacht unterwegs sein sollte.
»Was habt Ihr dort hinten an der Mauer gesucht?«, fragte Bastian nun ohne Umschweife. Gilig fasste sich an den Kopf, als schien er erst jetzt zu begreifen, was die beiden Männer der Zonser Stadtwache von ihm wollten. »Nichts weiter, ich habe dort nur meinen Hammer aufbewahrt.«
»Zeigt mir Euer Versteck!«, befahl Bastian und zerrte den Buckligen zurück zur Stadtmauer. Irgendetwas stimmte hier nicht. Sein Bauchgefühl betrog ihn nie.
»Wollen wir ihn nicht gleich in den Juddeturm werfen und morgen einer genauen Befragung unterziehen?«, fragte Wernhart missmutig. Bastian schüttelte den Kopf:
Weitere Kostenlose Bücher