Kalter Zwilling
«Lasst uns kurz nachsehen. Ich werde ihn nicht ohne Beweise in den Juddeturm sperren.«
Gilig stapfte mit eingezogenem Kopf voran. An der Stadtmauer angekommen, steckte er seine Finger tief in einen Spalt zwischen den Felssteinen hinein. Er ruckelte und zerrte, bis der Stein sich langsam löste. Ungeduldig stieß Wernhart den Buckligen beiseite und zog den Felsbrocken heraus. Mit ganzer Wucht und einem lauten Knall fiel dieser zu Boden.
»So sei doch leise!«, mahnte Bastian noch einmal. Wenn Wernhart so weiter machte, würde bald ganz Zons von diesem Lärm aufwachen. Wenn sie hier zusammen mit dem Buckligen gesehen würden, gäbe es sicher nicht wenige Zonser, die Gilig sofort in den Juddeturm werfen wollen würden. Aber so lange, wie seine Schuld nicht bewiesen war, wollte Bastian keine unnötigen Komplikationen heraufbeschwören. Es war schlimm genug, dass die Alte vom Krötschenturm und auch der Knabe Tilmann ihn beschuldigten.
Zugegebenermaßen war Gilig Ückerhoven eine eigentümliche Erscheinung. Schon als kleiner Junge wurde er wegen seines Buckels gehänselt. Obwohl er längst im heiratsfähigen Alter war, hatte er sich bis zum heutigen Tage kein Weib genommen. Er war kein schöner Mensch und wirkte geistig zurückgeblieben. Seine Sprache war einfach, doch immerhin besaß er ein kleines Haus an der Ostmauer in Zons. Dieses hatte er von seinen Eltern geerbt. Er war ihr einziges Kind. Das Unglück eines behinderten Sohnes hatte die Ückerhovens früh ins Grab getrieben. Gilig, der Außenseiter, wäre ein schnelles Opfer, und niemand würde sich für ihn besonders einsetzen. Umso mehr lag es an Bastian, für Gerechtigkeit zu sorgen. Ohne Beweise keine Schuld. Dies war ein eiserner Grundsatz der Zonser Stadtwache. Und Bastian hatte nicht vor, diesen aufzugeben.
Wernhart untersuchte das Loch, das sich groß und schwarz hinter dem herausgerissenen Mauerstein auftat.
»Es ist leer«, stellte er schließlich ernüchtert fest.
Gilig kramte in seinem Wams und zog einen verbogenen rostigen Hammer hervor. »Mein Hammer«, stotterte er.
»Warum versteckt Ihr ihn hier in der Mauer und nicht in Eurem Haus?«, fragte Wernhart aufgebracht. Gilig zuckte mit den Schultern. »Ist das vielleicht der Hammer, mit dem Ihr dem jungen Tilmann die Finger abgehauen habt?« Wernhart stieß Gilig bei diesen Worten aggressiv gegen die Brust und zerrte an dessen Wams herum.
»Redet schon!«
Gilig schüttelte heftig den Kopf.
»Lass ihn, Wernhart. Wir nehmen den Hammer mit und untersuchen ihn bei Tageslicht. Sollte auch nur ein einziger Blutstropfen daran sein, dann endet er im Juddeturm!«
Wernhart nickte und stieß den Buckligen von sich. »Lauft schon, bevor wir es uns anders überlegen«, zischte er und baute sich drohend auf. Gilig zuckte zusammen und rannte los.
...
Am nächsten Morgen untersuchten Bastian und Wernhart den Hammer. Er war vollkommen frei von Blut.
»Ich verstehe trotzdem nicht, warum der Bucklige ihn in einem Loch in der Stadtmauer versteckt. Es ist doch bloß ein Hammer.«
Bastian nickte, während er das schwere Werkzeug prüfend in seinen Händen hielt. »Es ist mir ein Rätsel. Wir sollten ihn auf jeden Fall weiter beobachten. Der Kerl ist mir nicht geheuer.«
»Warum haben wir ihn dann nicht sofort in den Juddeturm geworfen?« Wernhart war aufgebracht.
»Das weißt du doch so gut wie ich. Wir müssen den wahren Unhold finden. Ich glaube nicht, dass der Bucklige dem kleinen Tilmann etwas zu Leide getan hat.« Bastian ließ den Hammer fallen. Genau in diesem Augenblick betrat Pfarrer Johannes die Stube. Sein Gesicht sah grau und eingefallen aus. Die Augen lagen tief in den Höhlen.
»Matthias Hohnrath ist tot. Er wurde völlig zerstückelt im Wald aufgefunden.«
Johannes atmete schwer und setzte sich. Schweißperlen liefen über seine Stirn, obwohl die Temperaturen im September schon deutlich gesunken waren. »Und überall Tierfraß. Mir ist immer noch übel von seinem Anblick.«
Eine halbe Stunde später standen sie in dem kleinen Wäldchen, welches sich in westlicher Richtung an ein paar Felder anschloss. Der Wind wehte durch das schon leicht verfärbte Laub und die hoch am Himmel stehende Sonne ließ die Bäume in einem goldenen Licht erstrahlen. Bastian liebte diese goldenen Herbsttage. Nie war das Licht so schön wie zu dieser Jahreszeit. Tief sog er die frische Luft ein und bereitete sich innerlich auf den Anblick vor, der sich ihm gleich bieten würde. Eine angefressene
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