Kalter Zwilling
kleinen Finger wandern. Die Münze drehte sich dabei um jeden Finger im Kreis. Draußen stand die Sonne halbhoch am Himmel und tauchte die Landschaft in goldenes Herbstlicht. Es war eine gute Jahreszeit. Nicht zu warm und auch nicht eiskalt. Er hasste die Kälte. Sommerliche Temperaturen fand er grundsätzlich angenehm, doch alles verdarb viel zu schnell. Er musste im Sommer minutiös planen. Im Herbst konnte er sich Zeit lassen. Die Verwesung setzte erst viele Stunden später ein und er konnte in Ruhe seine Spuren verwischen. Auch wenn etwas Unvorhergesehenes geschah, blieb meist genug Zeit für eine Korrektur. Im Sommer hingegen musste alles perfekt sein. Es gab keine zweite Chance, denn der Verwesungsgeruch förderte die Leichen im Handumdrehen zutage.
Wie immer ließ er die Münze entscheiden. Kopf oder Wappen? Er schleuderte sie hoch in die Luft und zählte bis drei. Er schloss die Augen, denn er würde den Taler auch blind auffangen können. Ihre Schicksale waren seit jeher miteinander verbunden. Soviel hatte er herausgefunden. Die Blutlinie ließ sich nicht vortäuschen. Jeder Mensch konnte tief in seinem Innersten spüren, ob die Eltern, die ihn großzogen, von seinem Blut waren oder nicht. Viele wollten es gar nicht wissen. Sie glaubten Wurzeln zu haben, wo es gar keine gab. Aber der Schmerz der Wahrheit wäre unerträglich für sie und so ignorierten sie ihr Innerstes und verdrängten alle Zweifel.
Er war anders. Von klein auf hatte er die Unterschiede gespürt. Seine Eltern waren so gut, so liebevoll - er konnte unmöglich ihr Kind sein. Wäre er nicht zufällig auf diese Akte gestoßen, er würde es bis heute nicht wissen. Jetzt aber wusste er alles. Er würde jeden bestrafen, der ihn von seiner Blutlinie getrennt hatte.
Klatschend schlug die Münze auf seinem Handrücken auf. Er wusste, welche Seite oben lag, bevor er es sah: der stehende St. Petrus. Zeit zu handeln!
...
Kommissar Oliver Bergmann war stinksauer. So sauer wie selten zuvor in seinem Leben. Sein Gesicht war puterrot angelaufen und sein Herz pumpte wie ein Turbomotor Blut in gigantischen Mengen durch die zu engen Adern. Wortwörtlich war er kurz davor zu platzen.
»Hör zu, Oliver, ich wusste nicht, dass sie eine Prostituierte ist. Ich habe sie in einer Bar kennengelernt.« Klaus erinnerte sich genau an diesen Abend. Zuvor hatte er heftig mit Sonja gestritten. Sie wollte unbedingt mit ihm zusammenziehen, doch er fühlte sich noch nicht bereit. Niemand aus dem Polizeirevier in seinem Alter wohnte mit einer Frau zusammen. Er fühlte sich viel zu jung und zu cool, um sesshaft zu werden. Wütend über ihr Drängen war er davongestürmt und in die nächste Bar gelaufen, die geöffnet hatte. Nach drei Bier und fünf Schnäpsen war ihm Sophia Koslow wie die absolute Traumfrau erschienen. Er war am Ende dieses Abends so betrunken, dass er nicht einmal mehr mitbekam, wie er sie für die Nacht bezahlte. Sie war jung. So jung, dass sie es aus seiner Sicht nicht eilig haben konnte mit dem Zusammenziehen. Sie wollte Spaß, nichts Ernstes. Am nächsten Morgen riss sie ihr Zuhälter brutal aus dem Bett. Sie hatte nicht genug Freier bedient, weil sie die ganze Nacht nur mit Klaus verbracht hatte. Erst als ihr Zuhälter das Geld nachzählte und bemerkte, dass Klaus in seinem Suff für die ganze Nacht gezahlt hatte, ließ er von Sophia ab.
Klaus konnte diese Szene wieder und wieder in seinem Kopf abspulen: »Braves Mädchen!« Der Widerling klopfte ihr dabei fest auf den Hintern. »Jetzt geh runter. Dein Stammkunde wartet auf dich! Er platzt bald, weil er dich letzte Nacht nicht flachlegen konnte. Also besorg es ihm ordentlich, Sophia!« Er nahm ihr Kinn in die Hand und sah ihr tief in die Augen: »Und vergiss nicht, mein Engel, du gehörst mir!« Sein russischer Akzent war widerwärtig. Der ganze Typ war unterste Schublade mit seinem billigen, aufdringlichen Parfüm und seinen nach hinten gegelten Haaren. Wie ein Lackaffe stolzierte er in seinem zerknautschten Anzug durch das schäbige Hotelzimmer, in das Sophia Klaus für diese Nacht geschleppt hatte.
Für einen Moment spielte Klaus mit dem Gedanken seine Waffe zu ziehen und dem Mistkerl ein Loch in die Stirn zu verpassen, aber Sophias angstgeweitete Augen hielten ihn davon ab. Dieser ängstliche, verlorene Blick war es, der Klaus von diesem Moment an gefangen nahm. War es bis dahin ein Abenteuer im Suff gewesen, so entwickelte er jetzt einen heftigen Beschützerinstinkt für Sophia.
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