Kalter Zwilling
Fenster beobachten. Ihr Name fiel ihm wieder ein: Anna. Sie hatte einen merkwürdigen weißen Kittel an und stand mit dem Rücken zu ihm gewandt. Ihre brünetten Locken waren kürzer als sonst. Dann drehte sie sich plötzlich um. Bastian war verwirrt. Diese Frau sah Anna zum Verwechseln ähnlich, aber sie war es nicht. Unruhig wälzte er sich im Bett hin und her. Träumte er von Anna als alte Frau? Bevor er weiter darüber nachdenken konnte, begann es zu regnen. Er stand vor diesem merkwürdigen Haus und wurde nass. Er hörte, wie dicke Tropfen gegen die Wände prasselten.
Ohne Vorwarnung veränderte sich die Welt um ihn herum. Er befand sich jetzt in einem Gang. Er bestand nicht aus Mauersteinen, sondern aus einem glatten Material, welches sich im Licht spiegelte. Der Boden wirkte wie dunkles Wasser, doch er konnte darauf stehen. Die Wände waren glatt und makellos weiß. Bastian bestaunte diese herausragende Handwerkskunst. Plötzlich betrat Anna den Gang. Er rief ihren Namen, doch sie reagierte nicht, sondern ging immer weiter auf eine schmale Tür am Ende des Ganges zu. Er stand dicht hinter ihr, als ihm der Gedanke kam, dass dies Annas Mutter sein könnte. Das würde die Ähnlichkeit erklären. Bastian stöhnte im Schlaf leise auf. Warum träumte er von ihrer Mutter?
Durch die Tür vernahm er merkwürdige Geräusche. Es klang, als spräche jemand im immergleichen monotonen Singsang eine Formel vor sich hin, einen Zauberspruch oder einen Fluch. Bastians Herz raste. Er konnte die Gefahr beinahe körperlich spüren. Dann öffnete die Frau die Tür, und ein Mann fiel wie in irrer Raserei über sie her. Das Monstrum traf sie am Kopf und sie stürzte zu Boden. Gerade als Bastian sie auffangen wollte, lief ein weiterer Mann in den Raum und stieß den Irren zur Seite. Bevor Bastian sich von dem Schrecken erholen konnte, sah er Anna. Sie ging, begleitet von einem blonden Mann, auf die Tür zu.
Bastian schrie: »Bleib fort, Liebste!«
Doch sie hörte ihn nicht. Sie sah durch ihn hindurch, als wäre er Luft. Mit aller Kraft, die Bastian besaß, warf er sich vor die Tür. Anna durfte diesen Raum nicht betreten. Doch der blonde Mann schob Bastian achtlos beiseite. Ein greller Blitz schoss durch den Türspalt und Bastian wachte schweißgebadet auf.
Er atmete schwer. Der Vollmond schien durch die Fensteröffnung. Bastian blickte auf seine Hände. Im Mondlicht sahen sie blutleer aus. Fast, als hätte sie jemand verhext. Bastian gähnte und drehte sich auf die andere Seite. Er musste einen ruhigeren Traum finden. Vielleicht konnte er Anna am Rhein treffen, wenn er sich nur genug anstrengte. Mit diesem Gedanken verfiel er erneut in einen unruhigen Schlaf.
...
Pfarrer Johannes stand in der Schmiede und drehte eine goldene Münze zwischen seinen Fingern. Er kniff die Augen zusammen und versuchte, die Inschrift zu entziffern.
»Mein Augenlicht trügt mich«, jammerte er vor sich hin. »In meinem Alter erlegt der Herr uns immer mehr Prüfungen auf. Wie soll ich mit solch schlechten Augen diese Münze erkennen?«
Bastian nahm ihm die Münze aus der Hand und betrachtete die Figur des stehenden St. Petrus, der in seiner rechten Hand die Schlüssel zum Himmelsreich hielt. Er trug einen Heiligenschein und mit der linken Hand umfasste er ein Buch, das Buch des Lebens. Den Schriftzug, der sich am Rand der Münze befand und der nur vom Heiligenschein des St. Petrus und seinem Wappen unterbrochen wurde, konnte Bastian nicht lesen.
»Die Münze ist abgegriffen. Die Buchstaben heben sich kaum mehr vom Grund ab.« Bastian gab Pfarrer Johannes das Geldstück zurück. Dieser runzelte nachdenklich die Stirn.
»Wisst Ihr eigentlich noch, was man sich über den Erzbischof Dietrich von Moers erzählte?« Bastian schüttelte den Kopf.
»Er hat vor ungefähr vierzig Jahren Goldgulden nachgeprägt.« Bastian sah Johannes erstaunt an. »Meint Ihr damit, er hat Goldgulden gefälscht?«
Pfarrer Johannes nickte. »Ja, genau das meine ich. Er hat das Gold mit minderwertigen Substanzen gemischt und dann versucht, es in Köln unter die Bevölkerung zu bringen. Die Stadt Köln hat den Betrug jedoch entdeckt und die Münzen abgewertet. Sie waren nur noch 14 Weißpfennige wert. Für einen echten Goldgulden bekam man damals 24 Weißpfennige.« Pfarrer Johannes blinzelte. »Und genau, wie bei dieser Münze hier, konnte man den Schriftzug nicht entziffern. Der Schnitt der Nachprägung war viel zu roh.«
»Das würde bedeuten, dass diese
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