Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kalter Zwilling

Kalter Zwilling

Titel: Kalter Zwilling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Catherine Shepherd
Vom Netzwerk:
Persönlichkeitsstörungen. Er strömte weder Charme aus, noch trug er brutale Züge.
    »Wie viele Punkte erreicht Adrian Helmhold auf der Hare Skala?« Diese Frage war an Annas Mutter gerichtet.
    Bettina Winterfeld wich alle Farbe aus dem Gesicht. »Er hat die höchste Punktzahl!«
    »Wie kann das sein? Er wirkt so harmlos? Er ist nicht besonders kräftig und sieht jung aus. In seinen Gesichtszügen spiegeln sich keine negativen Gefühle wider.«
    »Er hat mich vor ein paar Tagen attackiert.« Bettina Winterfeld musste sich setzen.
    »Was? Warum hast du mir nichts davon erzählt?«, fragte Anna entsetzt und legte tröstend einen Arm um ihre Mutter.
    Diese schüttelte fassungslos den Kopf. »Er hat so merkwürdig in seinem Zimmer gesprochen. Ich glaube, er hat gezählt. Seine Stimme hatte so einen flehenden Unterton und da habe ich die Tür geöffnet.« Bettina Winterfelds Stimme wurde lauter. »Ich weiß selbst nicht, wie ich so dumm und unverantwortlich sein konnte.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Er ist der Schlimmste von allen, weil niemand das Ungeheuer in ihm erkennen kann. Er ist wie ein Wolf im Schafspelz!«
----

 
     
    IX.
    Vor fünfhundert Jahren
     
     
    August schlich um den Krötschenturm. Verhüllt in einen schwarzen Kapuzenumhang und geduckt, verbarg er sich im Schatten der Nacht. Der Mond glich einer schmalen silbernen Sichel. Dunkle Wolken schwebten unablässig an ihm vorüber und verdeckten sein fahles Licht. Der Nachtwind war kühl und brachte den Geruch von Herbst mit sich. Würzige und ein wenig vermoderte Luft kräuselte Augusts Nase. Der Winter war nicht weit und das machte August traurig. Die Menschen würden dann wieder Zeit am Feuer in ihren Hütten verbringen und niemand würde in seine Fallen tappen. Er würde seine Wut nicht mehr so intensiv ausleben können wie jetzt und musste seine Grausamkeit zügeln, damit Martha keinen Verdacht schöpfte.
    August lächelte. Martha, seine Stiefmutter, glaubte wirklich, dass er wie Christan war. In ihrer Welt glichen sie sich nicht nur äußerlich, sondern waren aus demselben Holz geschnitzt. In ihren Herzen wohnte dieselbe gute Seele. Manchmal wunderte sich August, wie leicht es war, die Menschen zu täuschen. Erst heute Morgen beim Gottesdienst hatte Pfarrer Johannes ihn gelobt und ihm dabei sanft übers Haupt gestreichelt. Dabei hatte er selbst dem kleinen Bauernmädchen einen Stoß gegeben. Sie fiel, schlug ihre Knie dabei blutig und August hatte ihr aufgeholfen. Eigentlich nur, weil sie im Weg lag - nicht, weil es ihn gekümmert hätte. Aber Pfarrer Johannes hatte ihn wohlwollend angelächelt und selbst Bastian Mühlenberg hatte ihm zugenickt, als er die Kleine vom Kirchenboden hochzerrte.
    Die Tür des Krötschenturms knarrte und öffnete sich zögerlich. August verkroch sich weiter im Schatten. Da kamen sie heraus, die dürren und kranken Gestalten. Eigentlich sollten sie hinter den verschlossenen Türen verrotten und ihre Krankheiten nicht in der Stadt verteilen, doch man hatte ihnen gestattet, sich in der Nacht für einige Meter unter freiem Himmel zu bewegen. Um Mitternacht wurde die Tür für eine Stunde geöffnet. Dicke, aneinandergereihte Holzpfosten und die wachsamen Augen der Stadtwache sorgten dafür, dass keiner von ihnen fliehen konnte. Einige Bewohner von Zons legten regelmäßig Speisen an den Zaun, in manchen Nächten war sogar ein Krug Wein dabei.
    Gierig stürzten sich die Kranken mit ihren ausgemergelten Leibern darauf und August beobachtete fasziniert, wie sie sich gegenseitig wegschubsten und keinerlei Rücksicht auf ihre Mitgefangenen nahmen. Der Überlebenstrieb ließ sie jegliche Menschlichkeit vergessen. Wer zu schwach war, wurde von den Stärkeren niedergetrampelt und nicht selten kam es vor, dass ein kranker Körper zusammenbrach und dann einfach leblos liegenblieb.
    Früher hatte August es in unbeobachteten Momenten geschafft, den einen oder anderen Gebrechlichen heranzulocken, um dann sogleich mit einem scharfen Messer in seine Eingeweide zu stechen. Doch seit die alte Jonata Heusenstamm fast jede Nacht hier herumschlich, um diesen Buckligen zu erwischen, hatte sich August zurückgenommen. Einmal, als er Tierreste vor dem Zaun fallenließ, hätte sie ihn fast erwischt. Nur gut, dass er seinen schwarzen Mantel trug, denn sie schrie den Namen des Buckligen hinter ihm her und hatte ihn tatsächlich verwechselt. Seitdem begnügte sich August damit, das nächtliche Treiben still zu

Weitere Kostenlose Bücher