Kalter Zwilling
beobachten.
...
»Tilmann, du hast doch gesagt, dass du sein Gesicht gesehen hast.« Bastian versuchte mit ruhiger Stimme, den Jungen zum Reden zu bringen. Tilmann starrte auf seine linke Hand, an der drei Finger fehlten. Der Arzt hatte gute Arbeit geleistet. Zwar litt der Knabe nach der Amputation ein paar Tage unter heftigem Fieber, aber jetzt sahen die Fingerstümpfe gut aus. Die Haut hatte sich gleichmäßig über die abgesägten Knochen verteilt und immerhin waren der Daumen und der Zeigefinger vollkommen intakt. Tilmann würde kaum behindert sein.
»Es war der Bucklige. Ich habe es Euch doch schon so oft gesagt.« Tilmann bestand auf seinen ungenauen Beobachtungen.
»Du hast mir gesagt, dass du sein Gesicht gesehen hast, als er sich im Wald auf dich gestürzt hat. Versuche, mir sein Gesicht zu beschreiben. Welche Augenfarbe hatte er?« Bastian behielt weiterhin die Geduld, obwohl er Tilmann am liebsten geschüttelt hätte. Wie konnte er nur so stur auf dem Buckligen beharren, wenn er ihn noch nicht einmal richtig beschreiben konnte?
Tilmann schüttelte den Kopf. »Ehrlich, Bastian Mühlenberg, es ging alles so schnell. An die Augenfarbe kann ich mich nicht erinnern. Sein Gesicht war auch eher wie ein Schatten.« Der Junge machte eine kurze Pause. Er spürte, dass Bastian Mühlenberg verärgert war.
»Ich kann mich nur an seine Gestalt erinnern. Es war ein kleiner Mann mit einer schwarzen Kutte. Die Kapuze hing tief in seinem Gesicht, sodass ich auch seine Haare nicht erkennen konnte.«
»Also gut, Tilmann«, Bastian seufzte, »ich kann leider mit deiner Beschreibung nicht viel anfangen. Sie ist zu allgemein, um sie eindeutig zuzuordnen. Willst du wirklich, dass ich aufhöre, nach dem richtigen Unhold zu suchen und womöglich der Falsche im Juddeturm landet?«
Tilmann schüttelte den Kopf. »Aber es war doch Gilig. So werft ihn doch endlich in den Juddeturm!« Die Stimme des Jungen brach und ein Weinkrampf erfasste ihn.
Bastian legte tröstend eine Hand auf seine Schulter. »Ich brauche eindeutige Beweise, Tilmann. Mein Amt verbietet es mir, einen womöglich Unschuldigen zu bestrafen und du bist doch selbst nicht sicher, ob es Gilig war.«
Tilmann schluchzte laut. »Aber meine Mutter ist sich sicher! Sie hat gesagt, ich sollte seinen Namen nennen. Die alte Jonata hat ihn doch auch gesehen!«
»Tilmann, du bist der einzige Zeuge und nur das, was du gesehen hast, zählt.« Bastian sah dem Jungen tief in die Augen. »Du musst bei der Wahrheit bleiben! Stell dir nur vor, jemand beschuldigt dich und du landest für immer im Juddeturm, obwohl du unschuldig bist. Möchtest du das?«
Tilmann schüttelte den Kopf. Bastian Mühlenberg hatte recht. Er wusste nicht genau, wer der Mann in der schwarzen Kutte war. Er war viel zu schockiert und vor Schmerzen fast ohnmächtig gewesen, um sich an irgendetwas genau erinnern zu können. Selbst die Bäume im Wald, die er bei seiner Flucht gestreift hatte, kamen ihm mittlerweile unwirklich vor. »Ich weiß nicht, wer es war. Ihr habt recht, Bastian Mühlenberg. Ich bin nicht sicher, ob Gilig in der schwarzen Kutte steckte.« Eine Träne lief über Tilmanns Wange. Hastig wischte er sie weg.
»Du tust das Richtige. Du bist ein guter Junge!« Bastian gab Tilmann einen Klaps und schickte ihn fort.
Oh nein, dachte er, jetzt bin ich genauso schlau wie vorher! In seinen Gedanken ging Bastian noch einmal die Geschehnisse der letzten Wochen durch. Angefangen hatte alles mit der alten verbitterten Jonata Heusenstamm, die in einer kleinen Lehmhütte am Krötschenturm hauste. Sie hatte den Mann in der schwarzen Kutte zuerst gesehen. Zwar gab es zu diesem Zeitpunkt noch keinen Mord, aber der Mann mit dem schwarzen Umhang war hier zum ersten Mal aufgetaucht. Bastian überlegte. Schwarze Kutten waren weit verbreitet in Zons. Es konnte durchaus ein reiner Zufall sein. Das Ziehen in seiner Magengrube sprach jedoch für das Gegenteil. Die Überreste der Tierkadaver zeugten von Blutrünstigkeit. Bastian erinnerte sich an die Worte von Pfarrer Johannes, als er über das Böse predigte. Das Böse nährt sich aus dem Bösen selbst und wächst zu immer größerem Unheil heran, wenn man es nicht mit dem Guten bekämpft. Ruft man Böses hinein, so schallt Böses heraus und deshalb soll auch Böses niemals mit Bösem vergolten werden.
Was, wenn wir den Teufel persönlich unter uns haben?, fragte sich Bastian. Wenn er erst seinen Blutrausch an Tieren stillte und dann immer mehr
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