Kalter Zwilling
Mann blickte auf. Augenblicklich zuckte sie zusammen. Sie hatte das Gefühl, dass er sie durch die Spiegelwand sehen konnte.
»Keine Angst«, flüsterte Bettina Winterfeld. »Sie können uns nicht sehen.«
»Bist du dir sicher, Mama?« Der Zweifel in Annas Stimme war nicht zu überhören.
»Ich habe das Gefühl, dass er uns direkt ansieht.« Emily flüsterte heiser. So hatte sie sich einen gefährlichen Psychopathen nicht vorgestellt.
Bettina Winterfeld hatte sie in die rote Etage geführt. Aus Sicherheitsgründen durften sie sich nur hinter den Spiegelwänden aufhalten. Professor Morgenstern nutzte diese Spiegelwände für seine psychologischen Studien. Er hatte es geschafft, Einwilligungserklärungen von allen seinen Patienten zu Forschungszwecken zu erlangen. Die Patienten fühlten sich durch die Spiegelwände, die nur für das Personal durchsichtig waren, unbeobachtet und konnten sich frei bewegen. Der Gemeinschaftsraum war um diese Uhrzeit voll belegt, doch Emily hatte nur Augen für Adrian Helmhold. Sie wusste selbst nicht, warum er sie so faszinierte. Seine graugrünen Augen blickten sie immer noch durch die Spiegelwand an. Sein Gesicht wirkte ausdruckslos, vielleicht ein wenig verträumt. Sein Körper war schmächtig und ließ ihn eher wie einen knapp Zwanzigjährigen erscheinen. Dabei war er bereits 28 Jahre alt und damit älter als Emily.
»Dort drüben sitzt Hans Dieter Wellenbrink.« Bettina Winterfeld zeigte mit dem Finger auf einen Mann mit graumelierten Schläfen.
»Seht doch, wie sympathisch und unauffällig er wirkt. Das müsste doch das richtige Profil für Emilys Reportage sein!«
Aus ihren Gedanken gerissen, betrachtete Emily den Mann. Er hatte mehrere Frauen auf dem Gewissen, die er entführt, sexuell missbraucht und anschließend kaltblütig ermordet hatte. In der Presse war er als der Frauenwürger bekannt geworden. Hans Dieter Wellenbrink war in der Tat ein Mensch, der als böse bezeichnet werden konnte. Außerdem könnte Emily für ihre Reportage seine Fotos verwenden. Im Gegensatz zu Adrian Helmhold war er in der Öffentlichkeit bekannt. Unauffälliger und beliebter Direktor eines großen Versicherungskonzerns ermordete fünf Frauen, während seine ahnungslose Familie ein sorgenfreies Leben an seiner Seite führte. Die Schlagzeile stand ganz deutlich vor Emilys Augen.
»Nimm die Pfoten von meinem Teller!« Eine wütende Stimme kreischte plötzlich laut auf. Ein breitschultriger Mann mit blondem Zopf attackierte einen kahlköpfigen Patienten. Geschirr und Essensreste flogen wild durcheinander. Offenbar hatte der Kahlköpfige versucht, ein Stück Brot vom Teller des anderen zu ergaunern. Wütend fuchtelte der Schreihals mit einem Stuhlbein herum. Ein Pfleger war sofort eingeschritten, aber er hatte sichtlich Mühe, den aufgebrachten Patienten unter Kontrolle zu bringen.
»Wer ist das?«, flüsterte Anna erschrocken.
»Das ist Henri Tiedemann, ein Vergewaltiger!« Bettina Winterfelds Stimme nahm einen herabwürdigenden Ton an. Sie konnte Männer, die Gewalt auf Frauen ausübten, nicht ausstehen.
»Er ist der dritte hochgradige Psychopath in dieser Klinik«, stellte Emily nüchtern fest. »Er hat schon mit zwölf Jahren seine eigene Schwester vergewaltigt. Sie war gerade einmal acht Jahre alt. Ich habe seine Akte bei meinem letzten Besuch gelesen.« Emily spürte, wie bei der Erinnerung daran eine Gänsehaut ihren ganzen Körper überzog.
Henri Tiedemann war ein impulsiver Psychopath, schwer unter Kontrolle zu bringen. Er hatte seine Schwester jahrelang vergewaltigt und sie so unter Druck gesetzt, dass sie erst nach eingehender psychologischer Behandlung ihr Schweigen brach. Zu diesem Zeitpunkt hatte Tiedemann fast ein Dutzend Frauen vergewaltigt und die Hälfte von ihnen im Rhein bei Köln ertränkt. Bis heute waren nicht alle Leichen gefunden worden. Vermutlich hatte der Rhein die toten Körper mittlerweile bis ins Meer gespült, wo sie als Fischfutter endeten und nie wieder auftauchen würden. Diese Vorstellung war grausam.
Auch Tiedemann war aus Emilys Sicht ein wirklich böser Mensch. Während der Versicherungsdirektor zu den Manipulatoren gehörte, denen die Opfer mehr oder weniger freiwillig in die Falle gingen, trug Tiedemann keine freundliche Maske. Seine groben Gesichtszüge und die nach unten gezogenen Mundwinkel verrieten seine Brutalität auf den ersten Blick. Nur Adrian Helmhold passte aus Emilys Sicht irgendwie nicht in das Schema für psychopathische
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