Kalter Zwilling
Vielleicht hatte sie sich geirrt. Ihre Mutter könnte sich schon verzählt haben, oder deren Mutter davor. Wer konnte denn schon ahnen, in welcher Generation sie sich wirklich befand? Immer wieder hörte sie die Stimme ihrer Mutter: »Du musst auf Nummer sicher gehen, Bettina! Tu uns das nicht an!«
Sie zählte, immer wieder von vorne. Ihre Zunge schwoll an und weigerte sich die Worte zu formen, die aus ihrem Mund heraus wollten. Wörter, Zahlen, Generationen der Familie flogen an ihr vorbei. Sie schrie. Schweiß rann den Hals hinab. Sie strampelte mit den Beinen und schlug um sich. Annas Gesicht tauchte vor ihr auf. Sie war noch ein Baby. Dann wachte Bettina Winterfeld auf.
...
Kevin Helmhold stand mit ausdrucksloser Miene vor seiner Mutter. Ihre schwabbelige blasse Haut hing schlaff von den Knochen hinunter, die weiß aus dem blutigen Fleisch herausragten. An einer Nylonschnur, die quer von einem Pfosten des Bettes zum nächsten gespannt war, hingen acht leblose Finger aneinandergereiht. Fliegen schwirrten in dem stickigen Raum umher und surrten aufgeregt. Offenbar war das Nahrungsangebot so groß, dass sie sich nicht entscheiden konnten, wo sie sich am besten niederlassen sollten. So schwirrten sie von einer stinkenden Wunde zur nächsten. Für sie musste es das Paradies sein.
Die Rollläden waren halb verschlossen. Blaulicht blinkte in rhythmischen Abständen in das Zimmer hinein und verlieh der Kulisse einen Hauch von Unwirklichkeit. Trampelnde Füße auf der Treppe verrieten Kevin, dass die Polizisten auf dem Weg nach unten waren. Neben ihm stand eine Frau mit kurzen, rotblonden Haaren und machte Fotos. Das Blitzlicht traf sich einige Male mit den blauen Lichtstrahlen der Polizeiautos, die den ganzen Hof blockierten. Kevins Netzhaut reagierte mit weißen Blitzen auf die Helligkeit. Er blinzelte. Dies war die einzige sichtbare Reaktion in seinem immer noch ausdruckslosen Gesicht.
»Ist das dein Zimmer da oben?« Oliver Bergmann betrachtete den jungen Mann skeptisch.
Kevin Helmhold nickte mechanisch. Die Handschellen an seinen Armgelenken klapperten im Takt.
»Wir haben Mäusekadaver gefunden. Ist das dein Werk?«
Wieder folgte ein mechanisches Nicken.
»Wir nehmen dich vorläufig fest. Du kommst mit aufs Revier und wirst uns einige Fragen beantworten müssen.« Oliver gab seinem Kollegen einen Wink. Kurz darauf wurde Kevin Helmhold in einen Polizeiwagen verfrachtet.
»Wie lange ist sie schon tot?« Oliver blieb vor der verstümmelten Frauenleiche stehen.
Ingrid Scholten ließ den Fotoapparat sinken. »Ich schätze nicht länger als zehn Stunden.« Sie blickte Oliver direkt in die Augen. »Es ist wieder derselbe Täter. Ich hoffe, wir haben gerade den Richtigen festgenommen. Die Abstände zwischen den Taten werden immer kürzer. Ich möchte mir nicht ausmalen, was passiert, wenn der Mörder noch frei herumläuft.«
Oliver nickte besorgt. Die Leiterin der Spurensicherung hatte recht. Die Abstände zwischen den Morden hatten sich von Wochen auf Tage verkürzt. Hans Steuermark war nach der erneuten Meldung so in Alarm versetzt, dass er persönlich zum Tatort gekommen war. Wenn die Polizei jetzt einen Fehler machte, würde die Pressemeute sie vor sich hertreiben.
Ihre Verdächtigen hatten sich auf drei Namen reduziert. An erster Stelle stand jetzt Kevin Helmhold, gefolgt von Ronny Hammerschmidt und Alex Schimpski. Leider waren bisher an keinem der Tatorte DNA-Spuren sichergestellt worden. Der Täter ging mit äußerster Sorgfalt und Kaltblütigkeit vor. Das psychologische Täterprofil wies klar auf eine psychopathische Persönlichkeitsstruktur hin.
Oliver schaute auf die Uhr. In einer knappen Stunde war er mit Professor Morgenstern verabredet. Er war ein ausgewiesener Experte auf dem Gebiet der psychopathischen Persönlichkeitsstörungen und hatte schon des Öfteren Gutachten für brutale Mordfälle erstellt. Seine Tatortanalyse eignete sich zur Bestimmung der Täterpersönlichkeit und konnte der Polizei so helfen, sich auf die richtige Tätergruppe zu fokussieren. Oliver hatte Professor Morgenstern bereits mit den wichtigsten Daten versorgt und hoffte, den Kreis der Verdächtigen nach dem Gespräch weiter einengen zu können.
Er stieg die Treppenstufen wieder hinauf. Petra Ludwig sammelte Beweisstücke in einer kleinen Plastiktüte und sein Partner Klaus machte Fotos. Das Zimmer von Kevin Helmhold strahlte eine düstere Atmosphäre aus. Auch ohne die toten weißen Mäuse, die sich in
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