Kalter Zwilling
mit Professor Morgenstern stimmt etwas nicht. Emily sollte sich lieber von ihm fernhalten. Und du natürlich auch.«
Anna runzelte verständnislos die Stirn. »Er ist doch ganz nett. Ohne ihn hätte Emily ihre Reportage gar nicht so gut recherchieren können. Es ist nicht selbstverständlich, dass man als Journalistin Einsicht in Patientenakten erhält. Das hätte sicherlich nicht jede psychiatrische Klinik erlaubt.«
Bettina Winterfeld unterbrach sie. »Ich habe ihn gestern Nacht in seinem Büro gesehen. Alles war voller Blut und er hielt ein Messer in der Hand. Er war halb nackt und ich bin nur knapp davongekommen!« Hektisch blickte sie auf die Uhr. »Oh nein, ich bin spät dran. Meine Schicht beginnt gleich und ich darf auf keinen Fall zu spät kommen.« Sie sah Anna mit einem gehetzten Gesichtsausdruck an. »Ich will nicht, dass er etwas Ungewöhnliches an mir bemerkt. Womöglich schöpft er sonst noch Verdacht, dass ich ihn beobachtet haben könnte.« Bettina erhob sich und drückte Anna einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Wir reden morgen weiter, meine Kleine.« Das Lächeln auf ihrem Gesicht wirkte wie eine Maske. Ohne sich noch einmal umzudrehen, zog Bettina Winterfeld die Wohnungstür zu.
Anna blickte ihr verwirrt hinterher. So aufgelöst hatte sie ihre Mutter noch nie erlebt.
...
Er hatte seine Münze verloren. Entsetzt über den Verlust, saß er wie zur Salzsäule erstarrt auf dem Bett, unfähig sich zu bewegen. Nur seine Gedanken rasten wie ein summendes Bienenvolk im Kopf herum. Gestern Morgen hatte er die Münze noch gehabt. Sie hatte entschieden, wer als Nächstes an der Reihe war. Er erinnerte sich an ihre weiße schwabbelige Haut und die fettigen braunen Strähnen. Ihre Augen hatten ihn anfangs voller Liebe betrachtet, doch als ihr klar wurde, was er vorhatte, war ihr Glanz der nackten Angst gewichen. Immerhin hatte sie ihn nicht mehr angelogen. Aber da er die Wahrheit sowieso längst kannte, waren ihre flehenden Worte an ihm abgeprallt, wie Regentropfen an einer Fensterscheibe.
Er hatte sich stundenlang Zeit gelassen. Verborgen hinter den dicken Stadtmauern von Zons, konnte niemand die Schreie hören, die er mit seinem Skalpell ihrem Mund entriss. Er musste bei dieser Erinnerung lächeln. Sie ließ sich fast wie ein Musikinstrument spielen. Je tiefer er in ihre Haut stach, umso höher wurden die Töne, die ihre aufgesprungenen Lippen verließen. In seiner Fantasie hatte er sie schon so oft sterben sehen, doch die Realität übertraf all seine Erwartungen.
Mehrfach hatte er die Klemmen von ihren freigelegten Adern gelöst und gewartet, bis das Leben aus ihren Augen verschwand. Kurz bevor der Tod eintrat, holte er sie zurück. Er ließ sie immer und immer wieder sterben. All seine Wut, die er so lange in sich getragen hatte, floss wie zäher Eiter aus seinem Körper hinaus.
Er fühlte sich beschwingt und befreit, bis zu jenem Moment, als er den Verlust seiner Goldmünze bemerkte. Der Stimmungswechsel war unbeschreiblich. Jetzt fühlte er sich wie ein Verlierer. Diese Münze war sein Talisman. Er hatte sie als kleiner Junge von einem alten Kauz bekommen, der ihn aus dicken Brillengläsern angesehen hatte, als sei ihm gerade ein Geist erschienen. Es war das erste Mal in seinem Leben gewesen, dass er etwas geschenkt bekam, um das er nicht hatte betteln müssen. Dieser Mann sah in ihn hinein und erkannte ihn. Nie wieder hatte er eine solche Verbundenheit gefühlt wie in jenem Augenblick, als der Mann ihm eine golden glänzende Münze in seine kleine Hand gelegt hatte. Er sollte sie behüten wie sein Leben hatte der Alte ihm gesagt. Und das hatte er getan - bis heute. Verdammt!
Hektisch kreisten seine Gedanken um die Geschehnisse der letzten Stunden. Er hatte sie in seinem Zimmer liegen lassen, da war er ganz sicher. Seine Kleidung und jede Ritze dieses Raumes hatte er intensiv durchsucht. Die Münze war nicht mehr hier. Er musste sie finden.
...
Zehn junge Menschen blickten die drei Kriminalkommissare aus blassen und müden Gesichtern an. Es war sieben Uhr morgens. Offenbar nicht die richtige Zeit für Studenten. Oliver musste grinsen. Emily war ebenfalls keine Frühaufsteherin. Um diese Uhrzeit würde sie ihn mit einem ebenso blutleeren Gesicht empfangen. Ihm selbst machte diese frühe Stunde nichts aus.
Sie hatten die Studenten, die auf Petra Ludwigs Liste standen, in den Vorlesungsraum beordert, in dem am Tag der Ermordung von Professor Neuhaus eine
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