Kalter Zwilling
linken Schublade lag ein lederner Kalender. Interessiert schlug er ihn auf und fuhr mit dem Finger über die verschiedenen Termine. Am heutigen Datum blieb sein Blick hängen. Es war kein Eintrag vorhanden. Dafür wurde er einen Abend zuvor fündig. Ein gewisser Ronny hatte für 22 Uhr eine Verabredung mit Sophia. Oliver fragte sich, ob Sophia die Tote dort auf dem Bett war und Ronny ihr sadistischer Mörder. Er blätterte einige Tage zurück. Der Name Ronny tauchte im regelmäßigen Abstand von ungefähr drei Wochen auf. Offensichtlich war er ein Stammkunde von Sophia. Im Kalender standen aber auch andere Mädchennamen.
Auf den ersten Blick schienen sich fünf Frauen dieses Appartement zu teilen. Das Kalenderbuch war gut gefüllt. Fast an jedem Tag fanden sich ein bis zwei Einträge. Im hinteren Teil entdeckte Oliver Visitenkartenfächer. Komisch, dachte er, wie freigiebig manche Menschen mit ihren Visitenkarten umgingen und sie sogar im Bordell hinterließen. Schnell überflog er die verschiedenen Namen. Vom Rechtsanwalt bis zum Immobilienmakler waren alle Berufsstände vertreten. Gerade wollte er den Kalender beiseitelegen, als ihm ein bekannter Name ins Auge fiel: Klaus Gruber.
Oliver zögerte. Das konnte doch nicht sein! Unauffällig atmete er tief ein. Diesen Namen gab es relativ häufig, versuchte er sich zu beruhigen. Automatisch flogen seine Augen vom Namen zur darunter angegebenen Privatadresse. Nein, es gab keinen Zweifel. Diese Visitenkarte stammte eindeutig von seinem Partner Klaus.
Oliver konnte es nicht fassen. Wie zum Teufel kam diese Karte hierher? Er konnte sich nicht vorstellen, dass Klaus in diesem Etablissement seiner Lust frönte. Schließlich hatte er doch seit Jahren eine feste Freundin. Nein, es musste sich um einen Irrtum handeln. Vorsichtig blickte Oliver sich zu Frau Scholten um. Sie stand über die Tote gebeugt und zupfte mit ihrer Pinzette an dem blutigen Laken herum.
Einem plötzlichen Instinkt folgend, zog Oliver die Visitenkarte aus der Plastikhülle und ließ sie in seiner Hosentasche verschwinden. Er spürte, wie eine Hitzewelle durch seinen Körper raste und seine Hände anfingen zu schwitzen. Fast konnte er selbst nicht glauben, was er da gerade getan hatte. Unterdrückung von Beweismitteln! Das könnte ihn den Kopf kosten. Unruhig beobachtete er erneut die Leiterin der Spurensicherung. Sie hatte nichts bemerkt. Konzentriert untersuchte sie die Leiche und würdigte Oliver dabei keines Blickes.
Einen kurzen Moment lang überlegte er, die Karte wieder zurückzulegen. Doch dann wechselte Frau Scholten ihre Position. Während sie vorher mit dem Rücken zu ihm gewandt den Tatort inspiziert hatte, stand sie ihm nun direkt gegenüber. Ein einziger Blick in seine Richtung könnte ihn entlarven. Egal. Oliver würde die Karte nicht zurückstecken. Es konnte sich hier nur um einen Irrtum handeln und er wollte nicht, dass sein Partner in Schwierigkeiten geriet. Schließlich kannte er ihn seit Jahren und der Besuch einer Prostituierten passte ganz und gar nicht in das Weltbild von Klaus.
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III.
Vor fünfhundert Jahren
Amüsiert beobachtete Martha die beiden dunkelhaarigen Halbwüchsigen, die sich lachend mit einem kleinen Hundewelpen vergnügten. Ein wildes Knäuel aus Beinen, Armen und flauschigem, bunt gefleckten Hundefell wälzte sich in rasender Geschwindigkeit auf dem Hof herum. Einer der Jungen löste sich aus dem Gewirr und drehte sich zu Martha um. Wie immer, wenn er sie mit den blauen Augen ihrer verstorbenen Schwester Elisa ansah, schlug ihr Herz für einen Moment höher. Ganz deutlich konnte sie in ihm die Gesichtszüge Elisas erkennen. Selbst die Art und Weise, wie er seinen Mund zu einem Lächeln verzog, ließ auf der Stelle das Bild der Schwester vor ihrem geistigen Auge entstehen.
Auch nach all diesen Jahren vermisste Martha sie so sehr wie am ersten Tag. Sie bereute den Zank um dieses dumme Kleid. Hätte sie damals gewusst, dass die arme Elisa für dieses Gewand mit ihrem Leben bezahlen muss, sie hätte es ihr nur zu gern freiwillig überlassen. Zu ihrer großen Genugtuung war wenigstens die alte Hexe, die der armen Elisa den Zwillingsfluch auferlegt hatte, kurz danach von der heiligen Inquisition auf dem Scheiterhaufen hingerichtet worden. Direkt neben dem Galgen - auf der Richtstätte »Am Galgenfeld« weit vor den Stadtmauern von Zons - wurde sie verbrannt.
Martha erinnerte sich genau an das Riesenspektakel, welches am Tag der öffentlichen
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