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Kaltes Blut

Kaltes Blut

Titel: Kaltes Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Franz
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einen geübten Schwimmer in den Tod reißen konnte, denn die Unterströmung befand sich nie an der gleichen Stelle, sondern veränderte sich nach scheinbar von ihr selbst aufgestellten Regeln.
    Er wartete noch zwei Minuten und ruderte zurück ans Ufer, ließ die Luft aus dem Boot, faltete es zusammen und trug es mit den Rudern zum Auto. Noch immer war er allein mit sich und der Nacht. Er verzog den Mund zu einem zynischen Lächeln, schaute ein letztes Mal um sich, nahm das Gerät vom Gesicht und setzte sich ins Wageninnere. Er atmete ein paarmal tief durch, startete den Motor und fuhr los. Er hatte es geschafft, und keiner würde je auf ihn kommen. Es war nur ein Mädchen, man würde es als vermisst melden und irgendwann die Suche aufgeben. Er empfand kein Mitleid für sie, auch nicht für ihre Eltern, für die es der traurigste Heiligabend überhaupt werden würde. Aber was interessierte ihn das Weihnachten anderer, was interessierten ihn die Gefühle irgendwelcher Eltern, die er noch nie zu Gesicht bekommen hatte, von denen er nur wusste, dass die Familie ohnehin bald auseinander brechen würde. Außerdem war das Mädchen selbst schuld an seinem Schicksal, es hatte es doch nicht anders gewollt. Er fühlte sich auf eine seltsame Weise glücklich und erleichtert,und sollten die Prognosen der Wetterfrösche tatsächlich eintreffen, so würde der See in den kommenden Tagen womöglich sogar zufrieren, zum ersten Mal seit zehn Jahren wieder.
    Nein, er hatte kein Mitleid, und er schwor sich, nie darüber nachzudenken oder zu bereuen, was er getan hatte. Ruhe in Frieden, dachte er auf dem Weg nach Hause, Ruhe in Frieden, mein Engel. Seine Weihnachtsvorbereitungen waren abgeschlossen, alle Geschenke gekauft, den Tannenbaum würde er morgen Nachmittag schmücken, wie es schon bei seinen Eltern Tradition war, eine Tradition, die er in seiner Familie fortsetzte. Merry Christmas.

Dienstag, 18. Juni, mehrere Jahre später
    Es war ein brütend heißer Tag, an dem die Temperatur auf beinahe unerträgliche siebenunddreißig Grad stieg. Um kurz nach neunzehn Uhr betraten die junge Frau und das Mädchen das um diese Zeit kaum besetzte Lokal. An einem der hinteren Tische abseits des Eingangs saß ein Pärchen, das tief in ein Gespräch versunken war und von den Eintretenden keine Notiz nahm. Im Raum war es im Gegensatz zu draußen angenehm kühl, es duftete nach italienischer Küche, südländischen Gewürzen und Wein, im Hintergrund klang leise aus versteckten Lautsprechern Musik. Die Frau und das Mädchen ließen sich an einem Tisch neben dem Fenster auf rustikalen Stühlen nieder, von wo aus sie einen guten Blick auf den Parkplatz und einen Teil des Reithofs und die angrenzenden Stallungen hatten. Alles war in gleißendes Sonnenlicht getaucht, und es würde noch fast zweieinhalb Stunden dauern, bis auch die letzten Strahlen der Sonne hinter den Ausläufern des Taunus verblasst sein würden. Allmählich trocknete der Schweiß unter der Kleidung, ein paar Perlen standen auf der Stirn des Mädchens.
    »Was möchtest du trinken?«, fragte die Frau mit angenehm weicher Stimme. Sie trug bis zu den Knien reichende schwarze Lederstiefel, eine khakifarbene, eng anliegende Hose und eine kurzärmlige weiße Bluse. Sie hatte ein markantes Gesicht, mit leicht hervorstehenden Wangenknochen, einer schmalen, geraden Nase und einem dezent geschminkten vollen Mund. Ihre Haut war sehr gepflegt, jede ihrer Bewegungen hatte etwas Graziles. Sie sah das Mädchen aus warmen braunen Augen an. »Oder möchtest du lieber etwas essen? Die machen hier eine tolle Lasagne.«
    Das Mädchen schüttelte den Kopf. Sie hatte kurzes rötlich-blondes Haar, grüne Augen, sanft geschwungene Lippen, die sich an den Seiten ein wenig nach unten zogen, und sie hatte bereits eine sehr weibliche Figur, die sie unter einem weit geschnittenen blauen T-Shirt und Jeans versteckte. Insgesamt machte sie einen etwas unsicheren Eindruck. »Nur ein Glas Orangensaft, bitte.« Sie hatte sich zurückgelehnt, die Hände gefaltet, den Blick gesenkt. Ihr schien die Situation unangenehm zu sein.
    »Wirklich keine Lasagne? Ich lade dich natürlich ein«, sagte die Frau mit aufmunterndem Lachen, aber dennoch leise, so dass nur das Mädchen die Worte hörte.
    »Nein, danke, ich habe keinen Hunger.«
    Die Frau gab dem Kellner ein kurzes Zeichen, der daraufhin an den Tisch kam und die Bestellung aufnahm. Sie bestellte Rotwein für sich und Orangensaft für das Mädchen. Der Kellner, ein hoch

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