Kaltes Gift
Ampel und hörte Sand unter den Rädern knirschen. Dann
verlor sich die Hauptstraße zwischen Fish-and-Chips-Buden und Pubs, und
er merkte, dass er jetzt in ein anderes Leyston-by-Naze geriet: vorbei
an einem langen Erholungspark und Hinweisschildern zum Jachthafen. Die
Straße verlief nun auf gleicher Höhe mit der Strandpromenade, parallel
zu ihr, der Landspitze entgegen, dem bedrohlich aufragenden Brocken der
Naze, einem zerklüfteten Felskoloss, der die Stadt überragte. Dieser
Bereich, der vom Stadtzentrum wegführte, war vorwiegend Wohngegend, mit
freistehenden, wettergegerbten Häusern, von der Straße abgeschirmt
durch Gärten, in denen harte, kaktusähnliche Pflanzen wuchsen, die dem
Sand und den Stürmen trotzen konnten, und bewohnt von pensionierten und
wettergegerbten Leuten, die in ihrer relativen Abgeschiedenheit
schwelgten.
Das Navigationssystem führte ihn auf eine Straße im Schatten
der Naze, die einen Halbkreis beschrieb und gemächlich in Richtung
Stadt zurückführte. Eine kühle Brise wehte vom Meer her und nahm der
Hitze des Nachmittags das Bleierne. Er parkte gleich am Anfang der
Straße. Das Haus lag an einer Straßenecke: ein weißgetünchter,
doppelstöckiger Bau mit bleigefassten Fenstern und an der Seite
emporrankendem Efeu. Lapslie ging darauf zu und war sich durchaus
darüber im Klaren, dass er wenigstens Emma Bradbury bei sich haben
sollte, besser noch ein ganzes bewaffnetes Einsatzkommando, aber ihm
war genauso klar, dass ihm diese Option nicht mehr offenstand. Er war
auf sich allein gestellt und versuchte, einen Sachverhalt aufzuklären,
allen Umständen zum Trotz.
Die beiden Haustüren, Seite an Seite geschmiegt, deuteten
darauf hin, dass das Haus in zwei Wohnungen aufgeteilt war –
eine oben, eine unten. An der Klingel für die obere Wohnung stand ein
Name, der ihm nichts sagte. Also musste die Erdgeschosswohnung Madeline
Poel gehören, die sich als Daisy Wilson ausgab.
Er klingelte und wartete.
Als sich nichts rührte, holte er ein kleines Werkzeug aus der
Tasche, eine Art Schweizer Messer, Überlebensmesser genannt, das ihm
einmal vor Jahren von Dom McGinley empfohlen worden war, blickte um
sich, um sicherzugehen, dass ihn niemand von der Straße her
beobachtete, und benutzte eins der ausklappbaren Werkzeuge, um sich
Zugang zu der Wohnung zu verschaffen. Dies hier, dachte er, war nur der
Zuckerguss auf dem Kuchen, soweit es seine Karriere betraf. Und wenn es
hart auf hart kam, konnte er immer noch behaupten, er habe gedacht, es
sei ein Verbrechen im Gange – was ja wahrscheinlich auch der
Fall war. Irgendwo.
Schon aus der Totenstille in der Diele konnte er schließen,
dass die Wohnung menschenleer war. Er ging in das vordere Zimmer. Dort
waren alle möglichen Besitztümer verstreut – eine Wolljacke,
eine Schale mit Blütenblättern, Lokalzeitungen –, doch
irgendwie ließ ihn das alles an eine Theaterkulisse denken, die auf den
Auftritt der Schauspieler wartete. Das ganze Zeug hier waren
Requisiten, bereitgestellt als Zutaten zu einer Theateraufführung. Es
war nicht echt.
Nachdem er sich rasch in der Wohnung umgesehen hatte, um
sicher zu sein, dass Daisy Wilson nicht im Schlafzimmer schlief oder
draußen im Garten war, durchsuchte er sie methodisch, ohne irgendetwas
zu verändern. Obwohl er allerlei Post fand, adressiert an Daisy Wilson,
entdeckte er nichts, wo Madeline Poel erwähnt wurde, und auch nichts,
das eins der anderen Opfer erwähnte. Wenn Madeline – oder
Daisy, die sie jetzt war – irgendwelche Trophäen bewahrte,
oder auch nur die Unterlagen, die sie brauchte, um dem Rest der Welt
gegenüber zwölf frühere Opfer fiktiv am Leben zu halten, musste sie das
alles irgendwo anders versteckt haben. In dieser Wohnung jedenfalls war
es mit Sicherheit nicht.
Doch er fand einen Stapel Werbebroschüren für ein Kunst- und
Antiquitäten-Center in der Umgebung von Leyston, das von jemandem
namens Eunice Coleman betrieben wurde. Aus irgendeinem Grund
interessierte sich Daisy Wilson dafür, und für ihn war es ein Ort mehr,
wo er es versuchen konnte, wenn er sie ausfindig machen wollte.
Womöglich war sie jetzt ja Eunice Coleman.
Laut dem Navigationssystem in seinem Wagen lag das
Kunst-Center etwa zwanzig Minuten entfernt. Er manövrierte sich aus
seinem Parkplatz und beschleunigte die Straße hinunter, zurück in
Richtung Stadtzentrum von Leyston.
Er fand es, an einem schlammigen Fahrweg gelegen. Zwei Gebäude
kamen in Sicht: ein trauriges, scheunenartiges
Weitere Kostenlose Bücher