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Kaltes Gift

Kaltes Gift

Titel: Kaltes Gift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nigel McCrery
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rumzustrolchen und verbotenes Zeug anzufassen, wo du doch eine
Teegesellschaft mit deinen Geschwistern veranstalten solltest.«
    Unkontrolliert quollen ihr die Worte aus dem Mund wie ein
Strom Erbrochenes, und sie konnte nicht aufhören. Sie wusste selbst
nicht, woher das alles kam. All die Jungen und Mädchen starrten sie
entgeistert an. Ihr Kopf hämmerte, und von der flirrenden Hitze im
Garten wurde ihr schwindlig und übel.
    »Du willst mir nicht gehorchen, wie? Ich werd dir zeigen, was
passiert, wenn du mir nicht gehorchst!«
    Und bevor sie begriff, was geschah, hatte Iris die geöffnete
Gartenschere um den Daumen von Kates rechter Hand geschlossen. Das Kind
schrie, die Augen schreckgeweitet. Sie versuchte, sich loszureißen,
doch Iris' Griff war eisern.
    Die Klingen der Schere wurden durch eine kraftvolle Feder
auseinandergehalten, und Iris musste alle Kraft aufwenden, sie
zusammenzuzwingen. Die Schneiden glitten durch Kates Daumen wie zuvor
durch den Rosenstamm. Der Daumen fiel herab. Helles Blut spritzte über
die leuchtend grünen Blätter.
    Kates Schreie wurden immer höher und durchdringender. Sie
verdrehte die Augen und begann krampfhaft zu zucken.
    Iris fasste mit der Gartenschere den Zeigefinger des Mädchens
und presste die scharfen Klingen zusammen. Der Finger kippte abwärts,
aber ein Stück Haut hielt ihn noch an der Hand. Iris schnitt noch
einmal, und der Finger verschwand.
    Die nächsten drei Finger gingen leichter. Kates Hand sah so
klein aus, als sie fertig war.
    Iris wandte sich um. Die anderen Kinder standen wie
angewurzelt da. Ihre starren Blicke waren auf Iris geheftet, als
könnten sie nicht glauben, was sie gesehen hatten, und warteten darauf,
dahinterzukommen, wie der Trick funktioniert hatte.
    Iris richtete sich auf und konzentrierte sich auf das Mädchen,
das ihr am nächsten stand. Ihr Name war Madeline.
    »Komm her, Madeline«, sagte sie ruhig, obwohl im Innern ihres
Kopfes ein rasender Sturm verworrener Gedanken tobte. »Los, komm her,
oder ich komme und hole dich …«

1
    D er Himmel über den Dächern war ein diesiges
Graublau, ein gleichförmiger Farbanstrich von einem Ende der Straße zum
anderen. Versteckt hinter dem milchigen Dunst, war die Sonne nur ein
hellerer Fleck in dem ohnehin lichten Himmel. Keinerlei Schatten
verdunkelten den Gehsteig oder die Straße. Irgendwie ließ das diffuse
Licht Autos, Häuser und Laternen aussehen, als seien sie ausgeschnitten
und auf ein genaues Abbild der Straße aufgesetzt worden, ohne Bezug zur
Realität und jederzeit beliebig anders zu arrangieren.
    Die zarte, fast durchsichtige Färbung des Himmels erinnerte
Violet an die Enteneier, die sie als Kind gesammelt hatte: eine Farbe,
so ungewöhnlich, so strukturiert, dass sie eher wie das Resultat einer
wohlerwogenen Absicht wirkte, und nicht wie eine Laune der Natur.
    Doch wie kam sie jetzt auf diesen Gedanken? Sie erinnerte sich
sehr genau an die Enteneier – das Gewicht in ihrer Hand,
schwerer als Hühnereier, und sie erinnerte sich auch an die winzigen
Flaumfedern, die manchmal noch an den Schalen klebten –, aber
wann und wo das gewesen war, das wusste sie nicht mehr genau. Die
Details waren da, doch der Hintergrund fehlte.
    Sie schob den Gedanken beiseite. Es gab Wichtigeres, um das
sie sich heute kümmern musste. Sie hatte eine Aufgabe.
    Von dort, wo sie ihr Auto geparkt hatte, schlenderte sie die
Straße entlang, schob ihren Einkaufstrolley vor sich her und blickte
immer wieder in den Himmel hinauf. Keine Flugzeuge, keine
Hubschrauber – bloß ein tiefes, durchscheinendes Blau. Einen
Moment lang war die Welt zeitlos. Es bedurfte kaum einer Anstrengung,
sich wieder zu fühlen, als sei sie sechs oder sechzehn, aber nicht
sechzig.
    Doch diese Anstrengung wäre zu viel gewesen. So war das eben,
wenn man alt wurde. Dinge, die leicht waren, wurden plötzlich schwer.
Energie, die einmal grenzenlos erschienen war, musste jetzt kleinlich
gehortet werden.
    Erleichtert stellte sie fest, dass sie vor dem Haus Nummer 26
angekommen war. Sie hielt einen Moment inne, um wieder zu Atem zu
kommen. Kühle lag in der Luft, aber nach dem langen Weg von ihrem Wagen
bis hierher war sie erhitzt und nervös.
    Sie betrachtete flüchtig die Fassade. In der oberen Hälfte der
Tür hatte die Farbe gitterförmige Risse bekommen, durch die Sonne, die
allmorgendlich darauf schien. Kratzspuren umgaben das Schlüsselloch.
Der Briefkasten war mehr als einmal mit Klebestreifen repariert worden.
Die Ziegel –

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