Kaltes Gift
»Ich war schließlich mal Tänzerin, wissen
Sie? Und sehen Sie mich jetzt mal an. Kann nicht mal allein zum
Einkaufen gehen.«
»Ich hab's Ihnen doch gesagt«, unterbrach Violet sie, »ich hab
mit dem Apotheker gesprochen. Von der Salbe werden die Geschwüre
verschwinden, wenn wir sie weiter benutzen. Was Sie brauchen, ist Ruhe.
Ich kann doch all Ihre Einkäufe erledigen und Ihre Rezepte einlösen,
und nachdem Sie jetzt an die Bank geschrieben haben, kann ich auch
dafür sorgen, dass Ihre Rente pünktlich ausgezahlt wird. So, und nun
lassen Sie Ihren Tee nicht kalt werden.«
»Ich bin Ihnen ja auch sehr dankbar, meine Liebe.« Daisy trank
geräuschvoll einen Schluck Tee, wobei ein wenig in die Untertasse
schwappte. »Sie sorgen so zuverlässig für mich. Ich wüsste gar nicht,
was ich ohne Sie machen sollte.«
»Jeder sollte sich um seine Freunde und Nachbarn kümmern.«
Violet zog eine Grimasse. Die Haut auf ihrer Stirn fühlte sich gespannt
und warm an. »Aber so was gibt's heutzutage eben nicht mehr genug.«
»Wissen Sie, was ich wirklich vermisse?«
Violet wusste nicht, ob Daisy weiter über ihre verlorene
Unabhängigkeit reden oder wieder von den Enteneiern und dem Anthrazit
anfangen wollte, also fragte sie bloß: »Na, was denn?«
»Die Whistrunden unten im Gemeindesaal. Einmal die Woche, am
Freitagvormittag. Da hab ich alle meine Freundinnen getroffen, hatte
Unterhaltung, und dazu eine Tasse Tee und ein paar Kekse. Darauf hab
ich mich immer gefreut, wirklich.«
»Ich weiß gar nicht, ob es diese Whistrunden überhaupt noch
gibt.«
»Aber ja, da bin ich ganz sicher. Ich hab's im Stadtanzeiger
gesehen.«
»Na ja, aber Sie wollen doch Ihre Augen nicht überanstrengen.
In Ihrem Alter muss man vorsichtig sein.«
»Ich kann doch auch die Zeitung noch einwandfrei lesen.«
»Daisy!« Violet verlieh ihrer Stimme einen scharfen Unterton.
Sie hatte dieses Gezänk allmählich satt. »Ich versuche doch bloß, Ihnen
zu helfen. Wenn Sie nicht möchten, dass ich alles Mögliche für Sie
erledige – wenn Sie nicht wollen, dass ich für Sie einkaufe,
Ihre Rezepte und was sonst noch alles besorge –, dann sagen
Sie es doch einfach, und ich überlasse es wieder Ihnen. Bestimmt gibt
es genügend Damen Ihres Alters, die für Hilfe dankbar wären.«
»Tut mir leid, Violet, ich wollte nicht …«
»Ist ja schon gut«, besänftigte Violet, »Schwamm drüber. Na,
wie wär's mit noch einer Tasse?«
Daisy blickte auf die Rückstände in ihrer Tasse hinunter.
»Hätte nichts dagegen«, sagte sie, »war gut, der Tee.« Sie schwenkte
die Tasse in der Hand und betrachtete eingehend die Teeblätter, als
wolle sie in ihnen ihre Zukunft lesen. »Was sind denn das für weiße
Krümel da drin?« Violet nahm ihr die Tasse aus der Hand und ging damit
in die Küche. »Ich hab ein paar Christrosenblätter aus meinem Garten
unter den Tee gemischt«, erwiderte sie, während sie den Teerest in den
Ausguss goss. »Ich finde immer, das gibt so ein schönes, blumiges
Aroma. Und es wird Ihnen guttun.« Sie schwieg einen Moment. »Wer
weiß – wenn Sie genug davon trinken, dann werden Sie
vielleicht noch zum Einkaufen und zur Bank rennen können!«
Daisy lachte, und Violet war ein wenig erleichtert. Krise
überstanden!
Sie goss eine neue Tasse für Daisy ein, trug sie ins
Wohnzimmer hinüber und stellte sie behutsam auf das Tablett neben ihre
eigene Tasse. Daisy war wieder eingedöst, und Violet saß still dabei,
beobachtete, wie sie atmete, und dachte an ihren Garten. An ihren
schönen, üppigen Garten, voll von den wunderbarsten Blumen. Sie war
nicht so oft dort, wie sie sollte, doch sie wusste, schon sehr bald
würde sie wieder einen Ausflug dorthin machen.
Nach einer Weile rührte sich Daisy. Sie blinzelte ein paar
Mal, dann lächelte sie Violet zögernd an.
»Ihr Tee ist noch warm«, bemerkte Violet.
Daisy lächelte zustimmend und griff nach der Tasse. Als sie
hinunterblickte, um zu sehen, wo sie stand, bemerkte sie Violets volle
Tasse neben ihrer. »Wollen Sie denn Ihren Tee gar nicht, meine Liebe?«
»Ich warte noch eine Weile. Bin noch ganz außer Atem vom
Einkaufen. Aber die Teekanne ist noch heiß; ich kann mir ja eine neue
Tasse holen, wenn diese hier kalt wird.«
Daisy nickte und nippte an ihrem Tee.
»Können Sie Whist spielen?«, fragte sie beiläufig. »Ich hätte
richtig Lust auf ein Spiel, gleich jetzt. Wär mal was anderes als
Fernsehen oder das Tageblatt.«
Die Frage überraschte Violet einigermaßen.
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