Kaltes Grab
dass sie da war, als sie ihn von der Zimmertür aus beobachtet hatte. Es hätte ihm geradezu ähnlich gesehen, so zu tun, als bemerkte er sie nicht. Peter war genauso, wahrscheinlich wäre er seinem Vater in zehn oder zwanzig Jahren noch ähnlicher. Beide waren abwechselnd eigensinnig und hitzköpfig, unnachgiebig oder aufbrausend. Nicht zuletzt diese Unberechenbarkeit hatte sie damals so anziehend an Peter gefunden. Doch in letzter Zeit hatte er seine Launen sehr im Zaum gehalten und sich in sich zurückgezogen.
»Es geht ihm gut«, antwortete sie. »Er schaut sich die Fotoalben an.«
Eigentlich hätte Grace das nicht speziell erwähnen müssen. Die Fotoalben lagen fast immer vor Zygmunt auf dem Tisch. Es waren Familienaufnahmen, Bruchstücke der Geschichte der Lukasz’, so gut es ging zusammengesetzt angesichts der vielen Lücken, des jähen Todes so vieler Familienmitglieder. Über jene Albumseite, auf der das Foto eines fröhlich lächelnden Achtzehnjährigen klebte, der Rest aber bis auf die nahezu unkenntliche Aufnahme einer Metallplakette leer war, gab es nichts zu sagen.
Zur Wigilia hatte es immer viele stille Gebete gegeben, in denen die Familie Lukasz versucht hatte, zu dem Teil der Verwandtschaft Kontakt aufzunehmen, der nicht in England lebte. In erster Linie hatten sie an Zygmunts und Krystynas Cousins und Cousinen in Polen gedacht, inzwischen aber auch an Andrew, den in Anwesenheit der alten Leute alle wieder Andrzej nannten.
Krystyna sagte, sie versuche immer, die Erinnerung an ihre toten Eltern in Polen heraufzubeschwören, um den Zusammenhalt zu stärken. Grace wollte sie fragen, ob ihre Gebete wirklich halfen, doch ein kurzer Blick in Krystynas Gesicht in einem unbeobachteten Moment verriet ihr alles, was sie wissen wollte.
Wie immer hatte man in der Kirche der heiligen Maria von Tschenstochau in der Harrington Street unter den Ikonen der Schwarzen Madonna eine Mitternachtsmesse gefeiert. Neben der Kirche stand die polnische Samstagsschule, in der immer noch eine Hand voll Schüler die Sprache lebendig erhielt, indem sie für die mittlere Reife auf Polnisch lernten und in der Geschichte Polens sowie im katholischen Glauben unterrichtet wurden. Die Kinder aus der Sonntagsschule führten auch das Krippenspiel beim Oplatek- Festmahl am kommenden Sonntag auf.
In der Kirche hatten alle mitgesungen. Ein paar Männer rochen nach Wodka, und auch einige der Frauen hatten rote Gesichter. Trotzdem versuchten alle zu singen. Die Polen waren nicht unbedingt mit schönen Gesangsstimmen gesegnet, was sie aber durch ihren Eifer wieder wettmachten. Sogar Zygmunt hatte in einige Koledy, seine Lieblingsweihnachtslieder, die nach der Messe gesungen wurden, eingestimmt.
Und natürlich hatte man sich unterhalten und Neuigkeiten ausgetauscht. Graces polnischen Verwandten war ausnahmslos ein bisschen Klatsch und Tratsch jederzeit willkommen. Jeder Versuch, sich gegen diese Einmischung in ihr Leben zu wehren, war zwecklos. Grace war dankbar für den Schnee, der ihr einen Vorwand lieferte, das Haus nicht verlassen zu müssen, da sie nicht wusste, was sie sagen sollte, wenn ihre Freunde sich nach Andrew erkundigten.
Sie sah zu, wie Peter über die prallen Blätter des Kaktus strich und mit der Fingerkuppe die sieben Zentimeter langen Stacheln befühlte. Er drückte dagegen, bis es aussah, als bohrten sie sich wie Nägel in seine Haut.
»Ich habe heute einen Anruf bekommen«, sagte er.
»Und?«
»Es war dieser Mann. Frank Baine.«
Grace erstarrte. Am liebsten hätte sie einen Kaktustopf aus dem Regal gezogen und gegen die Wand geschleudert. Sie wollte ihn durch die Glasscheibe hinaus auf die Steinfliesen im Garten werfen, seine hässlichen, gemeinen Stacheln zerstören und zusehen, wie der Saft aus seinem geschwollenen Körper spritzte. Aber sie reichte nicht einmal so hoch hinauf.
»Dann ist sie also hier«, stellte Grace fest.
»Heute Morgen in Manchester gelandet.«
»Willst du es ihm sagen?«
Peter schüttelte den Kopf. »Lass ihn noch eine Weile«, sagte er. »Er braucht seine Ruhe.«
Grace erinnerte sich an den freien Platz, der zur Wigilia gedeckt worden war. Für einen unerwarteten Gast, hatte Krystyna gesagt. Die alte Frau erklärte immer wieder, dass es sich um eine Tradition handelte. Es bedeutete, dass sie jedem Wanderer, der in dieser Nacht in den Straßen unterwegs war, mit Gastfreundschaft begegneten, jedem Fremden, der an ihre Tür klopfen könnte, wer immer er auch sein mochte. Denn zu
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