Kaltes Grab
über die Vergangenheit.
Trotzdem stand das Festessen unmittelbar bevor. Obwohl die Gemeindefeierlichkeiten in den Januar verschoben worden waren, war der Anlass kein geringerer, und alles musste korrekt über die Bühne gehen. Grace konnte die Rote-Bete-Suppe, den marinierten Hecht, den Karpfen mit Meerrettichtunke und die mit Pilzen gefüllten Tomaten fast schon riechen. Die Frauen, die das Festmahl organisierten, hielten zäh an den Traditionen fest, egal welcher Aufwand dafür betrieben werden musste.
Auch für das Wigilia im Kreise der Familie waren sämtliche Register gezogen worden. Alle hatten sich zu dem traditionellen, fleischlosen zwölfgängigen Menü mit dem zusätzlichen Platz für den unerwarteten Gast an den Tisch gesetzt. Zuerst hatten sie die Oplatki, die dünnen Oblaten, miteinander geteilt. In diesem Jahr bedeuteten ihnen diese Symbole der Versöhnung und der Vergebung mehr als je zuvor. Natürlich war es nicht so einfach zu vergeben. Grace wusste, dass Peter an ihren ältesten Sohn in London dachte, der bis auf diese gefärbte Blondine niemanden hatte, der Wigilia mit ihm feierte. Wie immer hatten sie Andrew eine Oplatek geschickt, doch ob er sie mit seiner Blonden gebrochen hatte, war fraglich. Soweit sich Grace erinnern konnte, hatte es in der ganzen Mietwohnung in Pimlico nichts gegeben, was überhaupt an Oplatek erinnerte, ausgesprochen wenig, das von Vergebung kündete.
Ginge es nach den jüngeren Familienmitgliedern, würden sich die Traditionen bald ändern. Richard und Alice war die ganze Angelegenheit einfach nur peinlich. Sie hätten aus Oplatek ein sinnentleertes Ritual gemacht, nur um es rasch hinter sich zu bringen, so dass man sich endlich dem Essen widmen und sich anschließend irgendeinen amerikanischen Spielfilm im Fernsehen anschauen konnte. Aber sie kannten Zygmunt zu gut, um ihn in dieser Jahreszeit zu verärgern, erst recht nicht in den vergangenen paar Monaten. Es war die Zeit der Vergebung, in der sie einander ihre Verfehlungen und die Fehler des zurückliegenden Jahres verzeihen konnten. Es war nicht die Zeit für Streitigkeiten.
Also hatte Zygmunt als der Älteste die erste Oplatek genommen und sie an seine Schwester Krystyna weitergereicht, sie gesegnet und ihr für das kommende Jahr Gesundheit und alles Gute gewünscht. Und sie hatte ihn angeschaut und ihm ebenso Gesundheit und Glück im kommenden Jahr gewünscht. Sie hatte seine Worte wiederholt, wie es Brauch war, doch dann war ihre Stimme gekippt, und die alte Frau hatte angefangen zu weinen. Grace war zu ihr gerollt und hatte ihr den Arm um die Schulter gelegt. Doch es hatte ganz so ausgesehen, als wollte die alte Frau gar nicht mehr aufhören zu weinen, vielleicht die gesamten zwölf Weihnachtstage nicht, bis zum Fest der Heiligen Drei Könige. Die Vorderseite ihres besten Kleides war von den Tränen ganz fleckig geworden.
Zygmunt hatte lediglich die Stirn gerunzelt und gewartet, dass er mit der Zeremonie fortfahren konnte, bis alle ihre Oblaten miteinander gebrochen und in die Krippenszenen gebissen hatten, die in das ungesäuerte Brot geprägt waren. Dann, erst dann, hatten sie sich zum Essen hingesetzt und angefangen, die zwölf fleischlosen Gänge einzunehmen, einen für jeden Apostel. Die Familie hatte sichtlich erleichtert aufgeatmet. Einige hatten erwartet, dass Zygmunt eine Rede halten und über die Versäumnisse und Sünden des vergangenen Jahres sprechen würde, so wie es seinen Worten nach sein Vater und sein Großvater immer getan hatten, indem sie alles auflisteten, was die jungen Leute falsch gemacht hatten, bevor sie ihnen verziehen und damit reinen Tisch für das neue Jahr machten.
Doch damit hätte Zygmunt alles nur noch viel schwieriger gemacht. Es war einfacher, so zu tun, als wären die Dinge nicht geschehen, indem man sie nicht offen ansprach.
Grace warf Zygmunt einen letzten Blick zu, um sich zu vergewissern, dass er noch atmete, dann rollte sie durch den Korridor zurück. Peter war im Wintergarten bei seinen Kakteen und Pelargonien. Auf dem Glasdach lag immer noch eine dünne Schicht Schnee, die dem Licht im Raum einen fahlblauen Schimmer verlieh.
»Ist mit Dad alles in Ordnung?«, fragte Peter, ohne sich von seiner Untersuchung einer stachligen Monstrosität auf einem Regal ablenken zu lassen. Sein Ohr war auf das Geräusch ihres Rollstuhls geeicht. Sogar Zygmunt besaß ein sehr feines Gehör. Es hätte Grace nicht gewundert, wenn der alte Mann die ganze Zeit über gewusst hätte,
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