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Kaltes Grab

Titel: Kaltes Grab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Booth
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Wigilia könnte dieser Fremde Jesus selbst sein. Bei der Vorstellung, Jesus könnte am Weihnachtsabend durch Woodland Crescent in Edendale spazieren und beschließen, an der Tür von Nummer 37 zu klingeln, hätte Grace am liebsten laut losgelacht. Er hatte mit Sicherheit Besseres zu tun, so wie der Weihnachtsmann am Weihnachtsabend – den Worten ihrer Eltern zufolge – Besseres zu tun hatte.
    Doch Grace hatte nichts gesagt. Zygmunt selbst hatte bei den Worten seiner Schwester den Kopf geschüttelt und gelächelt.
    Dann hatte er mit seiner leisen, kaum hörbaren Stimme auf Polnisch richtig gestellt, dass das zusätzliche Gedeck für all jene aufgelegt werde, die nicht unter ihnen weilten; für entfernte oder verstorbene Familienmitglieder, womit er natürlich seinen Vetter Klemens meinte. Zu Wigilia war Zygmunt zum Vorstand seines eigenen Haushalts geworden, und seither war es Jahr für Jahr so geblieben.
    Doch Grace wusste, dass dieses Jahr das Letzte war. Bei der nächsten Wigilia wäre der zusätzliche Platz nicht mehr für Klemens bestimmt, sondern für Zygmunt.
    Vielleicht war nicht nur die Kälte daran schuld, dass Alison fröstelte und den Mantel enger um die Schultern zog. Tatsächlich ging gerade die Sonne über Stanage Edge und dem Bamford-Moor auf. Noch eine Stunde, dann hatte sie der Luft ihre schneidende Kälte genommen und den Nebel aufgelöst, der sich noch immer an der schwarzen Wand des Irontongue Hill festklammerte. Alison sah aus, als wäre mehr als ein wenig Wintersonne notwendig, damit ihr wieder warm wurde.
    Sie blickte über eine struppige Grasfläche auf ein schneebedecktes Torfmoor, aus dem sich nackter Fels erhob. Der Wind fegte von einem weiter entfernten Berg im Norden über das Moor.
    »Der Berg dort drüben ist der Irontongue«, erklärte Frank Baine. »Weiter hinten sieht man den Bleaklow.«
    »Sieht ziemlich trostlos aus, jetzt im Schnee.«
    »Auch ohne Schnee ist es hier ziemlich öde.«
    Aufmerksam sah sie zum Irontongue Hill hinüber. Baine hatte ihr bereits erzählt, dass der Berg seinen Namen einem Durchbruch schwarzen Gesteins auf seinem Gipfel verdankte, einer extrem harten Steinplatte, die bei einem urzeitlichen Vulkanausbruch herausgeschleudert worden war.
    Morrissey wandte sich ab. Das Tal unter ihnen sah in der Dunkelheit unermesslich und geheimnisvoll aus. Es lag da wie ein zerknittertes Bettlaken, das von einem ruhelosen Schläfer zwischen Bergspitzen und Tälern festgezurrt worden war. Doch die Lichter der verstreuten Dörfer und Gehöfte verschwanden nach und nach im undefinierbaren Grau des Tagesanbruchs. Die Schatten der Hügel wurden dunkler und streckten ihre dunklen Finger über einen Flickenteppich aus Äckern und Feldern aus, tasteten über die Höfe zwischen Bauernhäusern und in die Gärten unsichtbarer Weiler.
    »Ich hätte nicht gedacht, dass es in England so kalt ist«, sagte sie. »Ich habe nicht die passende Kleidung eingepackt.«
    »Egal, was Sie eingepackt hätten«, erwiderte er, »es hätte sowieso nicht gepasst. In dieser Gegend ändert sich das Wetter alle paar Minuten. Schon morgen kann der ganze Schnee wieder verschwunden sein.«
    »Wollen wir’s hoffen. Ich muss die Stelle sehen. Daran liegt mir sehr viel.«
    »Verstehe«, sagte Baine.
    »Wollen die Lukasz’ mit mir reden?«
    »Nein«, erwiderte Baine.
    »Ich könnte sie umstimmen«, sagte sie. »Wenn ich nur die Möglichkeit hätte, persönlich mit ihnen zu reden, dann würden sie sehen, dass ich auch nur ein Mensch bin, genau wie sie. Wir wollen doch alle dasselbe.«
    »Da bin ich mir nicht so sicher.«
    »Aber natürlich. Wir alle wollen die Wahrheit erfahren, oder etwa nicht?«
    Sie starrten beide geradeaus auf die Windschutzscheibe und warteten darauf, dass der Beschlag sich auflöste. Die Hügel vor ihnen waren weiß und spiegelglatt wie Marmorplatten. Morrissey fröstelte.
    »Die Polen sind überzeugt davon, dass sie die Wahrheit kennen«, sagte Baine. »Tut mir Leid, aber so ist es nun mal.«
    Als sie weiter die A57 entlangfuhren, musste er immer wieder den Kopf aus dem Seitenfenster strecken. Auf halbem Weg blickte Morrissey zurück, während sie in der Manteltasche nach der kleinen Autofocus-Kamera suchte, die sie nicht benutzt hatte. Postkarten mit Aufnahmen von diesem Ort schienen immer nur die andere Richtung, das in Sonnenlicht gebadete Tal zu zeigen, Irontongue Hill war hingegen nie darauf abgebildet.
    Kurz vor dem Snake Inn mussten sie hinter einer Autoschlange halten, die darauf

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