Kaltes Grab
Gummiwülste wabbelten. Trotzdem war sein Gesicht ganz rot vor Kälte. Irgendwo in seinen Taschen befand sich wahrscheinlich ein geheimer Nahrungsvorrat – genug, um ihn ein, zwei Stunden am Leben zu erhalten, bevor er den nächsten Inder ausfindig gemacht hatte, bei dem er sich eine Portion Beefburyani holen und damit wieder mal ihren Wagen verpesten konnte.
»Ehrlich gesagt hasse ich es, wenn es kein Blut gibt«, sagte Hitchens.
Juliana Van Doon, die Gerichtsmedizinerin, arbeitete sich in voller Montur durch das vom Schnee befreite Areal, während ein Beamter den Tatort mit einer Videokamera abfilmte. Mrs Van Doon hatte die Kleidung des Toten über seinem Unterleib öffnen lassen, um eine klaffende Wunde zu untersuchen. In ihrem weißen Anzug sah sie wie ein misslungener Schneemann aus. Fry seufzte. Ein Schneemann und das Michelin-Männchen. Irgendetwas schien mit ihr heute nicht zu stimmen. Offenbar bekam sie von der Kälte schon Halluzinationen.
»Ich finde, nur mit Blut ist es eine richtige Leiche«, fuhr Hitchens fort. »Damit kriegt die Sache erst den richtigen Pfiff. Das gewisse je ne sais quoi. Vielleicht diese unterschwellige Gefühl von Gewalt. Den herben Geschmack der Vergänglichkeit. Sie wissen, was ich meine, Gavin?«
»Klar«, antwortete Murfin. »Das heißt, dass der Kerl eindeutig hinüber ist oder so.«
Murfin nuschelte verdächtig, als hätte er sich unbemerkt etwas in den Mund geschoben. Sie glaubte, in seiner Tasche Schokoladenpapier rascheln zu hören. Sehnsüchtig sah sie zu ihrem Auto hinüber. In der West Street wartete bergeweise Arbeit auf sie. Ständig wartete irgendwo irgendetwas auf sie, das es zu erledigen galt. Der Alltag in Edendale ging mit all seinen Unannehmlichkeiten weiter, so wie er in jedem Städtchen in Derbyshire und zweifellos in jeder kleinen und großen Stadt im Land weiterging. Viele Verbrechen wurden nicht einmal untersucht, geschweige denn aufgeklärt. Zum Beweis dafür wucherten überall tonnenweise Papierkram-Fälle, denen man aus versicherungstechnischen Gründen Bearbeitungsnummern zuordnete, ehe sie in die Ablage wanderten. Alle Welt schrie nach mehr Polizisten, damit noch mehr Verbrechen aufgeklärt werden konnten, als hinge der Fortbestand der Welt davon ab.
Doch hier, am Fuß des Snake Pass, kam sich Fry allerdings wie am Ende der Welt vor. Links und rechts der A57 ragte eine weiße, mehrere Fuß tiefe, unberührte und unnatürlich glatte Schneewand auf, die die Straßenränder nahtlos in das Hochmoor übergehen ließ. So weit außerhalb von Edendale war die asphaltierte Straßendecke der A57 das einzige Anzeichen von Zivilisation, und Fry fand es beunruhigend, dass auch sie jetzt nicht mehr zu sehen war. Als sollte ihr unmissverständlich mitgeteilt werden, dass sie hier nie wieder wegkommen würde.
Mrs Van Doon drehte sich kurz um und sah zu den Polizisten hinüber, die auf der Straße standen. Ihre Stimmen drangen laut und klar bis zu ihr hinauf. Sie schüttelte den Kopf und konzentrierte sich wieder auf ihre Arbeit.
»Eigentlich müsste jemand, der von einem Schneepflug fast halbiert wird, wenigstens ein bisschen bluten«, meinte Hitchens.
»Ja, aber ehrlich«, pflichtete ihm Murfin bei.
»Und sei es nur, um in den letzten Sekunden seines Lebens künstlerisch zufrieden stellend auszusehen.«
Hitchens suchte Frys Blick und nickte ihr zu, als hätte sie etwas Intelligentes gesagt. Sie wusste, dass er ihre Abneigung gegen Murfin und ihre Verärgerung darüber spürte, wie der DI ihn aufstachelte. Doch Hitchens lächelte wie jemand, der alle Zeit der Welt hatte und sich bewusst dafür entschieden hatte, einen guten Teil davon genau hier zu verbringen, an diesem gottverlassenen, schneebedeckten Ort, mit einer Hand voll Kollegen von der Polizei, zwei verstörten Arbeitern vom Grafschaftsamt und einer Leiche ohne Blut.
»Vielleicht ist das ja ein Indiz«, sagte er.
Fry sah zu, wie die Gerichtsmedizinerin die Temperatur maß und die Haut des Toten auf Leichenflecken untersuchte. Der Mann trug einen dunklen Anzug, der dort, wo ihn der Pflug erwischt und wie einen Müllsack auf die Straßenböschung geschleudert hatte, entsprechende Spuren aufwies. Die blaue Reisetasche, die bei ihm gefunden worden war, stand ein paar Meter weit weg. Er sah fast aus wie ein auf einem eingeschneiten Flugplatz gestrandeter Passagier, der sich auf dem Fußboden des Terminals schlafen gelegt hatte und auf einen Flug wartete, der niemals aufgerufen wurde.
Murfin kaute
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