Kaltes Grab
Schulmädchen aus.
»Wir müssen ein ganzes Stück bis zum Parkplatz gehen«, sagte er, ohne den Blick von ihr abzuwenden. »Schaffen Sie das? Sie sehen blass aus.«
»Aber ja. Mir geht’s gut.«
Er fand einen Gepäckwagen und schob ihn für sie zum Ausgang. Alison Morrissey blieb stehen, um sich die Beine zu massieren, obwohl sie während des ganzen Fluges über den Atlantik gewissenhaft ihre Übungen durchgeführt hatte.
»Scheußliches Wetter«, sagte er. »Aber vermutlich sind Sie in Kanada Schnee gewöhnt.«
»Ich wohne in einem Vorort von Toronto, Frank. Dort gibt es weit und breit weder Grizzlybären noch Holzfäller.«
Sie wirkte benommen und leicht desorientiert, doch sie riss sich zusammen und verwandelte sich wieder in eine selbstbewusste Frau Mitte zwanzig.
»Das Treffen findet doch hier im Polizeirevier statt?«, fragte sie.
»Natürlich. Keine Sorge, es ist alles gut organisiert.«
»Tut mir Leid, Frank. Es hat mich ganz plötzlich erwischt. Diese Reise ist mehr für mich als ein Urlaub in einem anderen Land – es ist wie eine Reise in die Vergangenheit.«
»Das kann ich gut verstehen.«
»Und zwar in eine gefährliche Vergangenheit. Ich habe wirklich den Eindruck, als stünde ich an der Grenze zu feindlichem Gebiet.«
»Sie dürfen nicht von allen Seiten Feindseligkeit erwarten«, widersprach er. »Das muss nicht so sein.«
Vor dem Gebäude sah Alison Morrissey zum grauen Himmel hinauf und fuhr sich mit der Hand über die Stirn.
»Sie haben Recht. Diese Atlantikflüge machen mich immer fertig. Hier ist die Frühstückszeit wohl schon vorbei?«
»Eigentlich ist schon fast Zeit zum Mittagessen. Wenn Sie wollen, essen wir gleich hier am Flughafen etwas.«
»Können wir nicht erst raus nach Derbyshire fahren? Wie lange dauert das?«
»Kommt darauf an, ob die A57 inzwischen frei ist«, antwortete er. »Auf dem Weg hierher musste ich die Autobahn nehmen. In der letzten Verkehrsdurchsage, die ich gehört habe, hieß es, der Snake Pass sei immer noch zu. Keine Ahnung, warum … normalerweise sind sie mit den Schneepflügen immer ziemlich schnell durch, jedenfalls auf den Hauptverkehrsstraßen. Vielleicht gab es einen Unfall oder so was.«
Grace Lukasz spähte vorsichtig um die Ecke in das Hinterzimmer des Bungalows. Sie hielt die Räder des Rollstuhls fest umfasst, um kein Geräusch zu verursachen. Zygmunt saß in seinem Lehnstuhl am Tisch. Es sah aus, als schliefe er. Seine Hände lagen auf der Tischplatte, die blauen Adern traten deutlich hervor, als litte er tatsächlich an dem hohen Blutdruck, über den er stets klagte, von dem die Ärzte jedoch nichts wissen wollten. Sein Kopf ruhte an der Stuhllehne, und er hatte die Brille abgenommen. Grace sah die roten Druckstellen auf beiden Seiten der Nase und die kleinen Büschel weißer Haare, die sich über die Ohren geschoben hatten. Auch in den Ohren sprossen Haarbüschel, und noch mehr Haare wucherten auf seinem Nacken, dort, wo er sich einfach immer wieder zu rasieren vergaß.
Die Augen des alten Mannes waren geschlossen, doch Grace war sich nicht sicher, ob er tatsächlich schlief. Er saß häufig einfach so da. Zygmunt behauptete immer, er denke nach, falls er sich überhaupt die Mühe machte, eine Erklärung abzugeben. Grace vermutete, dass er im Geiste sein Leben Revue passieren ließ und der Vergangenheit nachhing. In letzter Zeit schien er selten etwas anderes zu tun. Aber vielleicht tat sie ihm ja Unrecht. Vielleicht dachte der alte Mann an seine Frau Roberta. Doch sie bezweifelte es. Wahrscheinlicher war, dass er an Klemens Wach dachte. In letzter Zeit dachte er hauptsächlich an Klemens.
Am kommenden Sonntag fand in Edendale wieder das Oplatek -Festessen statt. Zu diesem Anlass kam fast die gesamte polnische Gemeinde im Dom Kombatanta, dem Veteranenclub, zusammen. Grace wusste, dass dieser Tag für Zygmunt den Höhepunkt des Jahres darstellte und wichtiger war als Wigilia, die Feier am Heiligen Abend. Das Festessen war der Tag, an dem für alle ein neues Jahr begann, aber es war auch eine Gelegenheit, über ihre Geschichte und ihren Platz in der Welt nachzudenken. Natürlich waren die meisten Teilnehmer des Festessens keine gebürtigen Polen, doch seit Solidarnosc und Demokratie und mit der Aussicht auf eine Mitgliedschaft in der EU setzten sich einige dieser Leute wieder mehr mit ihrer Kultur, ihren Wurzeln und ihrer Stellung in Europa auseinander. Zygmunt nicht. Zygmunt sprach in letzter Zeit nicht viel. Und wenn, dann nur
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