Kaltes Grab
und vor den Gardinen standen Topfpflanzen und Porzellanfigürchen. Diese Gegenstände dienten traditionell als Barrikaden gegen die neugierigen Blicke der Touristen, die sich im Sommer durch die Straße schoben, ohne Respekt vor dem Privatleben der Einheimischen zu zeigen, die hier das ganze Jahr über wohnten.
Walter Rowland war Mitte siebzig und sah aus wie jemand, der sein Leben lang mit den Händen gearbeitet hat, jetzt aber nicht mehr dazu fähig war. In seinen verkrümmten Fingern zuckten ab und zu die Sehnen, die so deutlich unter der Haut zu sehen waren, dass sie wie Fäden einer Marionette wirkten. Ben Cooper bemerkte, dass ihn dieses Zucken von Rowlands Gesicht und dem Klang seiner Stimme ablenkte.
»Kommen Sie doch rein«, forderte Rowland ihn auf. »Ich weiß zwar nicht, was Sie wollen, aber ich kriege nur selten Besuch.«
Das Cottage war ein traditionelles Reihenhaus, zwei Zimmer unten, zwei oben, alles sauber und ordentlich. Das Erdgeschoss bestand aus einem kombinierten Wohn- und Esszimmer, das zur Straße hinausging, sowie einer Küche im rückwärtigen Teil. Rowland führte Cooper durch das vordere Zimmer, das von einem Kiefernholztisch und einem schmiedeeisernen schwarzen Kamin mit Gasfeuer dominiert wurde, das den Raum immerhin mit ausreichend Wärme erfüllte, um die Kälte draußen vergessen zu lassen.
In der Küche sah Cooper eine offene Hintertür, die nicht nach draußen, sondern in eine kleine, an das Haus angebaute Werkstatt führte. Er erspähte eine Werkbank mit einem metallisch glänzenden Schraubstock und ordentlich an der Wand aufgehängten Werkzeugen. Auf dem Boden lagen Holzspäne, auf einem Tisch mehrere halb fertige Gegenstände.
Rowland schloss umständlich die Werkstatttür, wobei er nicht die Hände benutzte, sondern sich mit Ellbogen und Schulter dagegenlehnte. Dann schaltete er, ohne sich zuvor zu erkundigen, ob sein Besucher einen Tee wollte, den elektrischen Wasserkocher an, der unmittelbar neben der Spüle unter dem rückwärtigen Fenster stand. Cooper fiel auf, dass die Haut des alten Mannes so durchscheinend war wie seine Hände. Man konnte die Adern in seinen Schläfen sehen, und das Licht vom Fenster schimmerte durch die Spitzen seiner Ohren.
»Natürlich erinnere ich mich an die abgestürzte Lancaster«, sagte Rowland. »Ich erinnere mich an alle Abstürze, zu denen ich gerufen wurde, an jede einzelne Leiche und an jeden verletzten Flieger, den ich mit meinen Kameraden ins Tal getragen habe. So was vergisst man nicht. Und die Lancaster war am allerschlimmsten.«
»Erinnern Sie sich auch noch an die Aufregung um den kanadischen Piloten, der nie gefunden wurde?«
»Der ist abgehauen«, sagte Rowland. »McTeague, der Pilot. Mord war das, glatter Mord. Der Mann hat vier von seinen Leuten tot liegen lassen und einen, der im Sterben lag, und ist einfach abgehauen. Er hat sich keinen Pfifferling um seine Besatzung geschert.«
»Vielleicht stand er unter Schock. In solchen Situationen sind die Leute oft unberechenbar. Womöglich wusste er nicht einmal, wo er überhaupt war oder was passiert ist.«
Rowland schnaubte verächtlich. »Eins sag ich Ihnen: Wir hatten manchmal Männer, die sind im Lazarett aufgewacht und wussten nicht, warum sie dort waren, und an den Absturz haben sie sich schon gar nicht erinnert. Doch, so was gibt’s. Aber das hier war anders.«
»Und wieso?«
Rowland ging zurück ins Vorderzimmer und setzte sich an den Tisch. Cooper folgte ihm und zuckte unwillkürlich zusammen, als er sah, welche Schmerzen dem alten Mann das Gehen bereitete.
»Er muss inzwischen gestorben sein«, sagte Rowland.
»Das weiß ich nicht.«
»Man soll ja nicht schlecht über die Toten reden. Ich würd’s auch nicht wollen, dass die Leute schlecht über mich reden, wenn ich mal tot bin. Das wird nicht mehr lange dauern, deshalb denke ich wohl immer öfter dran.«
»Außer McTeague gab es bei dem Absturz nur einen einzigen anderen Überlebenden«, sagte Cooper.
»Und hat der was gesagt?«
»Nein.«
»Reine Loyalität. Der Käpt’n macht nichts falsch. So war das damals.«
Cooper nickte. »Da haben Sie Recht. So war das damals.«
»Ich dachte immer, sie finden ihn bald«, meinte Rowland. »Aber angeblich hat er es bis runter zur Straße geschafft, und von dort ist er dann per Anhalter weitergefahren. Hat seine Fliegerausrüstung weggeworfen und ist abgehauen.«
»Ein Lastwagenfahrer hat damals ausgesagt, er habe ein paar Stunden später auf der A6 einen Soldaten
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