Kaltherzig
sie ihn nicht mit auf die Farm. Sie verriet nicht viel von sich.«
Das war eine Sache, die ich immer an ihr gemocht hatte. Irina belastete ihre Umgebung nicht mit derben Details über ihr Sexualleben, oder wen sie getroffen oder mit wem sie gebumst hatte.
»Hatte sich ihre Stimmung in letzter Zeit verändert?«
Ich stieß ein kraftloses Lachen aus. »Nein. Sie war grob und arrogant wie immer.«
Nicht gerade begehrte Eigenschaften für eine Pferdepflegerin, aber mich hatten ihre Launen eigentlich nie gestört. Gegen mich wirkte sie weiß Gott wie ein Engel. Sie hatte eine Meinung zu vielen Dingen und scheute sich nicht, sie auszusprechen. Ich respektierte das. Und sie machte ihren Job verdammt gut, auch wenn sie sich manchmal dabei aufführte, als müsste sie Zwangsarbeit in einem sibirischen Gulag verrichten.
»Soll ich dich nach Hause bringen?«, fragte Landry.
»Nein. Ich bleibe.«
»Elena...«
»Ich bleibe.«
Ich drückte die Zigarette auf dem Trittbrett des Wagens aus und warf den Stummel in den Aschenbecher.
Ich dachte, er würde versuchen, mich aufzuhalten, aber er trat einen Schritt zurück, als ich ausstieg.
»Weißt du etwas über ihre Familie?«
»Nein. Und ich bezweifle, dass Sean etwas weiß. Es wäre ihm nie in den Sinn gekommen zu fragen.«
»Dem Steuerzahlerverein gehörte sie wohl nicht an, oder?«
Ich warf ihm einen Blick zu.
Ausländer ohne Papiere bildeten einen großen Teil der Arbeitskräfte im Pferdegeschäft Südfloridas. Sie zogen jeden Winter nach Wellington, genau wie die Besitzer und Trainer der fünf- oder sechstausend Pferde, die hierhergebracht wurden, um an einigen der größten und bestdotierten Reitsportereignisse der Welt teilzunehmen.
Von Januar bis April verdreifachte sich die Einwohnerzahl des Ortes, und vom Milliardär bis zum armen Schlucker war alles vertreten. Das Hauptveranstaltungsgelände - der
Palm Beach Polo and Equestrian Club - war ein Schmelztiegel der Nationen. Nigerianer arbeiteten als Wachleute, Haitianer leerten die Abfalleimer, Mexikaner und Guatemalteken misteten die Ställe aus. Einmal im Jahr veranstaltete die Einwanderungsbehörde eine Razzia und scheuchte die illegalen Ausländer auf wie Ratten, die man aus einem Mietshaus vertreibt.
»Du weißt, ich werde die Sache per Funk durchgeben, und dann kommen Leute hier heraus.«
Mit Leute meinte er Detectives vom Büro des Sheriffs - nicht mein größter Fanclub, obwohl ich einmal zu ihnen gehört hatte. Aber ich war auch schuld daran, dass einer von ihnen vor drei Jahren bei einer Drogenrazzia getötet worden war. Eine falsche Entscheidung - befehlswidrig, natürlich -, ein paar nervöse Crystal-Dealer, das Rezept für eine Katastrophe.
Ich war nicht ungeschoren davongekommen, weder körperlich noch seelisch, aber ich war auch nicht gestorben, und es gab Cops, die mir das nie verzeihen würden.
»Ich habe die Leiche gefunden«, sagte ich. »Ob es mir gefällt oder nicht.«
Es gefiel mir nicht. Ich wollte nicht hier sein. Ich wünschte, ich würde die Person nicht kennen, die zu einer von einem Alligator verstümmelten Leiche geworden war. Aber irgendwie hatte es dieser ganze Ärger fertig gebracht, mich zu finden, und ich konnte nichts dagegen tun.
Das Leben ist ein gemeines Biest, und irgendwann bist du dann tot.
Manche früher als andere.
4
Mordopfern wird am Fundort der Leiche sehr wenig Würde zuteil. Jemand findet sie, ist von ihrem Anblick entsetzt, ruft die Polizei. Uniformierte Beamte tauchen auf, dann Detectives, dann eine Einheit der Spurensicherung samt Fotografen, jemand staubt alles ein, um Fingerabdrücke zu nehmen, jemand misst die Entfernung zwischen Gegenständen am Fundort. Der Vertreter des Coroners trifft ein, untersucht die Leiche, dreht sie um, hält nach allem Möglichen Ausschau, von Leichenflecken über Austrittswunden bis zu Maden.
Die Menschen, die an diesen Fundorten arbeiten - und bereits an Hunderten zuvor gearbeitet haben und an Hunderten weiteren arbeiten werden -, können es sich nicht leisten, das Opfer als das Kind, die Mutter, den Bruder oder Geliebten von irgendwem anzusehen. Wer diese Person im Leben auch gewesen sein mag, wenn sie dort liegt, während die Arbeit am Fundort erledigt wird, ist sie ein Niemand. Erst wenn die Ermittlung richtig beginnt, wird sie im Denken dieser Leute wieder als Vater, Schwester, Mann, Freund lebendig.
Es gibt nichts Schlimmeres als eine Leiche, die ein paar Tage im Wasser gelegen hat - lange genug, damit im Innern des
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