Kampf der Gefuehle
Ariadne ließ sich weder von dem Gewusel, das an den Verladeplätzen und um die Fuhrwerke herrschte, noch von dem Geschrei der Schauerleute davon abhalten, ihren Weg fortzusetzen. Sie wollte unbedingt ihren Spaziergang machen und einen Blick auf den Fluss werfen, den der Regen hatte anschwellen lassen und der infolge der Unwetter der letzten Zeit voller Treibgut war.
»Sieh doch, ma chere «, rief Maurelle plötzlich aus, »dein Fechtmeister und seine Freunde. Welch glücklicher Zufall!«
»Mein Fechtmeister? Wohl kaum«, erwiderte Ariadne mit gedämpfter Stimme.
»Du weißt schon, was ich meine. Ich glaube, sie beabsichtigen stehen zu bleiben, also hör auf, so finster dreinzublicken, und sei freundlich, damit sie nicht den Eindruck bekommen, dass du dich für etwas Besseres hältst.«
»So empfindlich werden sie doch wohl nicht sein.«
»Du hast ja keine Ahnung«, zischte Maurelle ihr zu, während sie mit ausgestreckten Händen auf die Gruppe zuging. »Monsieur Gavin, Nicholas, Juliette, liebe Freunde, wie schön, Sie zu treffen! Ah, und den jungen Monsieur Squirrel haben Sie auch dabei. Bonjour, mon petit. Ist dies Gedränge nicht erstaunlich? Eigentlich wollte ich Ariadne ja gar nicht begleiten, aber jetzt muss ich sagen, dass ich das Ganze um nichts in der Welt hätte verpassen wollen.«
Ariadne lächelte tapfer, als sie dem Paar vorgestellt wurde, das sie noch nicht kannte. Maurelle hatte ihr schon viel über diesen attraktiven Italiener und seine Frau erzählt, die vor ihrer Heirat kurz davorgestanden hatte, Nonne zu werden. Aus diesem Grund hatte Ariadne das Gefühl, die beiden gut zu kennen. Der junge Mann, den Maurelle begrüßt hatte, hieß in Wirklichkeit Nathaniel. Squirrel war lediglich sein Spitzname. Er war etwa siebzehn oder achtzehn Jahre alt und absolvierte, wie sich herausstellte, in Gavin Blackfords Fechtstudio eine Art Lehrzeit.
Obwohl Ariadne sich den anderen zugewandt hatte, bemerkte sie, wie der Engländer sie eingehend musterte, was sie so sehr verwirrte, dass es einen Moment dauerte, bis eine Bemerkung Maurelles in ihr Bewusstsein drang. »Pardon? Was hast du eben gesagt? Monsieur Blackfords Bruder? «
»So ist es. Und seine Schwägerin, unsere Juliette, geborene Armant.« Maurelle lächelte das Paar an, als sei es völlig alltäglich, dass ein Italiener und ein Engländer Brüder waren.
»Mir war nicht klar, dass Sie Verwandte hier haben«, sagte Ariadne, die so überrascht war, dass sie sich direkt an Blackford wandte.
»Wir sind Halbbrüder, um genau zu sein«, entgegnete Nicholas Pasquale an seiner Statt, indem er sie charmant anlächelte. »Unser Vater ist viel in der Welt herumgekommen, müssen Sie wissen. Nicht dass das irgendeine Rolle spielen würde — um einen anderen als Bruder zu betrachten, ist keine Blutsverwandtschaft erforderlich.«
Der Italiener war ein ungeheuer attraktiver Mann — zart und gleichzeitig sehr männlich. Im ersten Moment vermochte Ariadne keine Ähnlichkeit zwischen ihm und Gavin Blackford festzustellen, da der eine dunkelhaarig, der andere blond war. Bei genauerem Hinsehen entdeckte sie jedoch, dass die beiden vieles miteinander gemeinsam hatten — nicht nur die Größe, die breiten Schultern und die schmalen Hüften, sondern vor allem die tiefliegenden Augen, die sich hinter dichten Wimpern verbargen.
Ariadne vermutete, dass hinter der Tatsache, dass sie beide in derselben Stadt lebten, eine Geschichte steckte. Bevor sie sich danach erkundigen konnte, erschallten hinter ihnen grüßende Rufe.
Wie sich herausstellte, handelte es sich bei den Neuankömmlingen um weitere Fechtmeister und ihre Frauen, und zwar um die beiden Paare, auf die Maurelle sie am Abend zuvor in der Oper aufmerksam gemacht hatte, die O'Neills und den Conde und die Condessa de Lerida, die von dem Fechtmeister Bastile Croquere, einem Mulatten, und einem weiteren Italiener namens Gilbert Rosiere begleitet wurden. Die beiden Gruppen mischten sich auf ungezwungene Weise. Keiner von ihnen schien Wert auf Formalitäten zu legen, wie Ariadne feststellte, derweil die anderen Grüße und Bonmots, Fragen und Neckereien austauschten. Diese Fechtmeister und ihre Frauen und auch Maurelle bedienten sich untereinander eines legeren, freundschaftlichen Umgangstons und schienen stets davon auszugehen, dass alles, was sie zueinander sagten, nur nett gemeint war. Sie schwatzten und lachten und berührten einander mit zwanglosen Gesten, während der Wind an den Röcken und Hauben der Damen
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