Kampf der Gefuehle
war. Gavin, der sie seit etlichen Jahren kannte, wusste, dass sie wie die meisten großen Künstler außerstande war, ihr enormes Talent richtig einzuschätzen. Aus diesem Grund musste man ihr ständig bestätigen, wie gut sie war. »Sie sind unvergleichlich, madame «, sagte er, »außer dass es vielleicht im Himmel ein oder zwei Engel gibt, deren Gesang sich mit dem Ihren messen kann.«
Sie lachte erfreut. »Ich mag Sie ebenfalls äußerst gern, und das aus gutem Grund, mon brave. Wenn Sie darauf bestünden, würde ich sogar meine Schokolade mit Ihnen teilen, obwohl es mir lieber wäre, wenn Sie sich an die Karaffe mit Wein hielten.«
»Ich würde nicht im Traum daran denken, Sie zu berauben«, gab er zurück. Offenbar hatte er sie verlegen gemacht, obwohl sie das gut zu kaschieren verstand. Er ging zu einem Beistelltischchen und füllte eines der dort stehenden Kristallgläser mit rotbraunem Sherry. »Wo ist Maurelles Logiergast denn heute Abend?«, fragte er, den Blick auf das Glas gerichtet.
»Ariadne? Ich glaube, sie kleidet sich um. Das hat etwas mit einer Lieferung von Madame Pluche, der Meisterin der Nadel, zu tun. Möglicherweise gesellt sie sich gar nicht zu uns. Sie hat nämlich einen Schock erlitten.«
»Gewiss, es war sehr bedauerlich, dass sie auf der Promenade war, als das Postschiff aus Natchez eintraf. Aber
ich hätte nicht gedacht, dass ihr das persönlich so nahegeht«, sagte er über die Schulter, um einen beiläufigen Ton bemüht.
»Dann wissen Sie also nicht Bescheid? Ich dachte, Sie waren dabei.«
»Ich war dabei, als die Leiche eines jungen Mädchens vom Dampfer geschafft wurde, und auch, als deren Mutter eintraf. Dass der Kummer der Dame einem sehr zu Herzen ging, kann ich bezeugen, aber schockierend war das Ganze eigentlich nicht.« Er machte eine Pause. »Es sei denn ...»
»Genau, mon ami. Es sei denn, dass Ariadne die Frau und ihre Tochter kannte. Was in der Tat der Fall ist.«
Das hatte er bereits vermutet. Das Weinglas in der Hand, drehte er sich der Diva zu, die Augen mit den Wimpern abschirmend. »Ich wollte Sie ohnehin fragen«, sagte er, »ob die beiden zu Ihrem Bekanntenkreis gehören, da die ältere Dame bei Ihrer Benefizvorstellung in Maurelles Loge aufgetaucht ist.«
»Das habe ich nicht bemerkt, da ich anderweitig beschäftigt war. Allerdings hat mir Maurelle hinterher davon erzählt.« Madame Zoe deutete ein Lächeln an. »Bei der Frau handelt es sich um die ehrgeizige Mutter mehrerer Töchter. Offenbar ist es ihr gelungen, einige von ihnen an den Mann zu bringen, aber da die diesbezüglichen Möglichkeiten dort, wo sie lebt, erschöpft waren, ist sie ins Vieux Carre gekommen, um weiter Jagd auf Ehemänner für ihre Töchter zu machen. Ihr Mann und ihre jüngste Tochter wollten zu ihr stoßen, aber jetzt ... es ist wirklich ein Jammer ...«
»Und die Frau heißt Madame Arpege.«
»Sagt Ihnen der Name denn nichts?« Sie nippte an ihrer Schokolade und sah ihn über den Rand der Tasse hinweg aufmerksam an.
»Ich muss Sie bitten, mich aufzuklären.«
»Sie ist Ariadnes Mutter.«
Etwas in der Art hatte er fast erwartet. Schließlich stimmte vieles überein - die Gesichtsform der beiden Frauen, ihre Stimmlage, die langen, glänzend schwarzen Haare. Gleichwohl war er verwirrt. »Ich dachte, ihre Mutter und ihr Vater - ihre ganze Familie, um genau zu sein - seien seit über zwei Jahren tot.«
»Das war ihre Pflegefamilie.«
»In die man normalerweise kommt, wenn es keine andere gibt. Oder liege ich da falsch?«
Daraufhin erzählte sie ihm die ganze Geschichte, in einem derart neutralen, sachlichen Ton, dass die Einzelheiten ihn wie Hammerschläge trafen. Im zartesten Alter war die kleine Ariadne weggegeben worden wie ein unerwünschtes Kätzchen, das in hilfloser Angst faucht und maunzt. Nach ihren Mädchenjahren, in denen sie gehätschelt und verwöhnt worden war, war sie aus materiellen Gründen mit einem alten Kater gepaart worden — bis sie sich schließlich in sich selbst zurückgezogen hatte, zur rätselhaften Sphinx geworden war, zur Wüstenlöwin, die nichts empfindet, wenn sie ihr Opfer zerreißt.
Als Madame Zoe ihren Bericht beendet hatte, starrte er nachdenklich in sein Glas, vermochte jedoch keinen Grund zu finden, der es gerechtfertigt hätte, die Frage, die sich an dieser Stelle aufdrängte, zu umgehen. »Und wie hießen die Pflegeeltern?«
»Es waren ihre marraine und ihr parrain, ihre Paten, die man bei ihrer Geburt unter den Cousins und Cousinen
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