Kampf der Gefuehle
Nathaniel in dem Jahr, das er in seinem Dienst verbracht hatte, beträchtlich zugenommen hatte, fehlten ihm immer noch einige Pfund auf den Rippen.
Er sah ihn im Spiegel an. »Gewiss, in England hatte ich einen Butler, der für diese Aufgabe gut ausgebildet war. Aber jetzt bin ich nicht mehr in England.«
Ein beunruhigter Ausdruck huschte über Nathaniels Gesicht. »Sie wolln doch nich' etwa nach Hause zurückkehren!«
»Sie wollen doch nicht etwa«, korrigierte ihn Gavin. »Keine Bange. Das zweifelhafte Vergnügen, Spucknäpfe zu säubern und die Fußböden von Tabaksaft zu befreien, wird dir länger zuteil werden, als dir lieb ist.«
»Dann ist ja alles in Ordnung. Allerdings würde ich es vorziehen, wenn Sie weniger Amerikaner als Schüler hätten.«
»Da muss ich dir beipflichten. Die in dieser schönen Stadt wohnenden Franzosen lehnen es ab, Tabak zu kauen, weil sie das für unzivilisiert halten — kein geringer Grund, sie zu lieben.«
Nathaniel grunzte, was seiner Vorstellung nach für ein Gespräch zwischen Gentlemen ausreichte. Als Gavin nach seinem Gehrock langte, hielt der Junge ihn ihm hin. »Wolln Sie wieder die Witwe Faucher unterrichten?«
»Ich würde eher sagen, dass ich mich dem Kampf mit dem Drachen stelle. Mal sehen, was sich ausrichten lässt, ohne dass dabei Blut fließt.«
»Ihrs oder das der Dame?«
»Lauselümmel«, schalt Gavin ihn in gelassenem Ton, während er in den langen, zweireihigen Gehrock schlüpfte und ihn zuknöpfte. Wahrscheinlich war es ein Fehler gewesen, den Jungen ins Vertrauen zu ziehen. Das hatte er sich in den letzten Monaten angewöhnt, da es in gewisser Weise so war, als spräche er mit sich selbst.
Es war Nicholas gewesen, der Gavin gebeten hatte, Nathaniel bei sich aufzunehmen und ihm etwas beizubringen. Das hatte er seinem Halbbruder nicht abschlagen können, selbst wenn er gewollt hätte, was nicht der Fall war. Der Bursche war von Natur aus intelligent, besaß Initiative und verfügte über ein ungeschliffenes, höchst individuelles Ehrgefühl, so dass der Umgang mit ihm ein Vergnügen war. Gavin tat sein Möglichstes, ihm dazu zu verhelfen, dass er zu einem ehrenhaften Mann statt zu einem Vagabunden heranwuchs, und betrachtete ihn mittlerweile fast wie einen kleineren Bruder. In nachdenklicheren Momenten wollte es ihm so scheinen, als diene ihm diese Beziehung dazu, einen Verlust aus der Vergangenheit zu kompensieren.
»Soll ich aufbleiben, bis Sie zurückkommen?«, fragte Nathaniel, indem er sich gegen den Türpfosten lehnte und die Arme vor der Brust verschränkte.
»Um mich bei meiner Rückkehr mit ebenso vorwurfsvollem wie verschlafenem Blick zu begrüßen? Lass das lieber. Außerdem habe ich keine Ahnung, wie spät es werden könnte.«
»Dann haben Sie also mehr vor, als nur Unterricht zu erteilen.«
»Spar dir solche Bemerkungen, die mich daran erinnern, dass du aus der Gosse kommst. Ich habe gar nichts
vor.«
»Sind Sie da ganz sicher?« Nathaniel sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. Die Beleidigung ließ ihn ebenso kalt, wie es gelegentliche Komplimente taten.
Gavin war sich in keiner Weise sicher, was ein weiterer Grund dafür war, warum er sich mit seinem Rasiermesser geschnitten hatte. Er wollte heute Abend mit Ariadne Faucher über ein oder zwei Dinge sprechen. Zum einen wollte er sich erkundigen, welches Interesse sie an der Dame hatte, deren Tochter bei dem Unglück umgekommen war, zum anderen wollte er sie nach der Identität des Mannes fragen, der sich ihren Hass zugezogen hatte. Was danach geschah, würde von ihren Antworten abhängen.
»Ich stelle mich meinem Schicksal«, sagte er, indem er nach seinen Handschuhen griff und sie über seine Hände zog. »Worin dieses besteht, liegt ganz bei der Dame, wie immer, wenn ein Mann und eine Frau sich treffen.«
»Und wenn das nicht klappt?«
»Das, du grüner Junge, ist einer der Gründe, warum du lernst, mit einem Degen umzugehen. Dergestalt hat die Dame stets die Wahl.«
Federnden Schrittes verließ er das Studio, dabei seinen Stock zwirbelnd — aus lauter Vorfreude, wie er amüsiert feststellte. Obwohl Madame Faucher bei ihrer letzten Begegnung so verstört gewesen war, hatte sie ihm keine Nachricht zukommen lassen, um den Unterricht des heutigen Abends abzusagen. Folglich ging er davon aus, dass alles wie geplant vonstattengehen würde.
Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn das nicht der Fall gewesen wäre. Diese Schülerin nahm einfach zu viel von seiner Zeit in
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