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Kanada

Kanada

Titel: Kanada Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Ford
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Farmers of America gab oder den internationalen Farmjugendaustausch. Meine Mutter las jetzt europäische Romane (Stendhal und Flaubert) und besuchte einmal in der Woche einen Sommerkurs an einem kleinen katholischen College in Great Falls. Meine Schwester hatte sich plötzlich, trotz ihrer strengen Sicht auf die Welt und ihrer schlechten Laune, einen Freund zugelegt – den sie auf der Straße kennengelernt hatte, beim Heimweg vom Rexall-Kino (was meinen Vater beunruhigte, aber er vergaß es auch bald wieder). Meine Eltern waren nie betrunken, stritten sich nicht und hatten meines Wissens auch keine Affären. Meine Mutter mag ihre »körperlichen Malaisen« verspürt und immer mal wieder ans Fortgehen gedacht haben. Aber noch mehr dachte sie ans Bleiben. Ich weiß noch, irgendwann in dieser Zeit las sie mir ein Gedicht des großen Iren Yeats vor, das folgenden Vers enthielt: »Und nichts kann ganz und einig sein / es sei denn, erst getrennt.« Ich habe dieses Gedicht im Verlauf meines Lehrerlebens oft durchgenommen und glaube, so sah sie die Dinge: unvollkommen, aber doch annehmbar. Ihr Leben zu ändern, das hätte das Leben und sie in Verruf gebracht und sich zu zerstörerisch ausgewirkt. Das war der typische Standpunkt eines Einwandererkindes, den sie geerbt hatte. Im Rückblick mag man das Schlimmste über unsere Eltern denken – dass in ihnen eine furchtbare, irrationale, verheerende Kraft am Werk war –, aber sehr viel wahrscheinlicher hätten wir, aus dem Weltraum gesehen, vom Sputnik aus, überhaupt nicht irrational oder verheerend gewirkt, und wir selbst hätten uns ganz gewiss nie dafür gehalten. Am besten betrachtet man unser Leben und die Handlungen, die es zerstörten, als zwei Seiten einer Medaille, die man gleichzeitig wahrnehmen muss, um sie richtig zu begreifen – die ganz normale Seite und die desaströse Seite. Die ganz nah beieinanderlagen. Jeder andere Blick darauf liefe Gefahr, die wesentlichen, vernünftigen, banalen Anteile unseres Lebens zu schmälern, durch die uns, innen drin, alles sinnvoll vorkam – und ohne die nichts von alldem erzählenswert wäre.

6
    Der neue Plan meines Vaters, gestohlenes Rindfleisch an die Bahn zu verhökern, lief – zumindest anfangs – zwar wie erwartet, doch der später in der Tribune erschienene Artikel machte deutlich, dass dieser Plan komplizierter war als die früheren Geschäfte mit dem Stützpunkt. Dort lieferten die Indianer das Fleisch zum Haupttor herein. Die Wachen waren instruiert, sie durchzulassen. Dann fuhren die Indianer direkt zum Hintereingang des Offiziersclubs, luden das Rindfleisch aus und wurden auf der Stelle (vermutlich von meinem Vater) in harten Dollars bezahlt. Er und der Clubmanager, ein Captain namens Henley, behielten einen verabredeten Teil des Geldes für die Indianer ein und suchten sich die Tenderloin-Steaks für ihre Familien aus. Alle waren zufrieden.
    Die Transaktion mit der Great Northern Railway dagegen musste anders aufgezogen werden, weil der schwarze Eisenbahner Spencer Digby, wie sich herausstellte, Indianern mit großer Angst und großem Misstrauen gegenübertrat und außerdem schnell flatterig wegen seines Arbeitsplatzes wurde – er hatte eine gut bezahlte, gewerkschaftlich abgesicherte Stelle mit hohem Dienstalter-Status im Speisewagen-Service. Deshalb ließ dieser Digby die Indianer mit ihrem Kastenwagen – der auf den Seiten die Aufschrift einer Teppichfirma aus Havre trug – zum Ladeplatz am Great-Northern-Depot fahren und nahm die Lieferung des Diebesguts entgegen. Aber er weigerte sich, die Indianer sofort zu bezahlen – was mit besagter Angst und besagtem Misstrauen zu tun hatte und mit der Notwendigkeit, die Qualität des Fleisches zu prüfen. Beide Gründe beleidigten die Indianer, die sowieso schon ungern Geschäfte mit einem »Neger« machten. Also musste arrangiert werden, dass mein Vater zum Depot kam und das Geld von Digby entgegennahm, doch erst einen Tag später, wenn Digby das zu zahlende Geld besorgt und die »Speisewagen-Qualität« des Fleisches geprüft hatte. Digby wollte die beiden Transaktionen – den Empfang des Fleisches und die Bezahlung dafür – getrennt halten, so als wäre das Geld gar nicht für das Fleisch (falls er erwischt werden sollte) und als wäre mein Vater der eigentliche Lieferant und die Indianer lediglich seine Zuarbeiter. Derartige Systeme haben immer einen unvernünftigen Kern, und das liegt schlicht daran, dass wir es mit Menschen zu tun haben.
    Diese

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