Kanada
Sommersprossen zu haben, das lag an ihrem Makeup. Ihr einst krauses Haar war grau und spärlich.
»Ich muss bloß noch mal zu Hause vorbei«, sagte sie, als wir losfuhren. »Es ist nicht weit. Ich hab mein Oxy-Dingsda vergessen. Und dann könnten wir zu Applebee’s, dachte ich. Da fühle ich mich ganz wohl. Weißt du?«
»Wunderbar«, sagte ich. Sie trug für ihre Chemo einen transparenten Shunt, der mit Klebeband auf ihrer rechten Hand befestigt war. Alles, was sie tat, war mit großer Anstrengung und großen Schwierigkeiten verbunden – auch das Treffen mit mir. Im Auto herrschte das schiere Chaos. Eine schmutzige Tagesdecke aus grüner Chenille bedeckte die Schalensitze. Das Radio war ausgebaut. Ein Streifen Isolierband war über einen Riss im Vinyl des Armaturenbretts gezogen. Auf dem Rücksitz lagen ein Reifen und ein Wagenheber mit weiterem Zubehör. Berner trug einen langen lila Flickenmantel, der nicht neu war, und weiße Pelzstiefel. Sie verströmte einen starken Krankenhausgeruch, nach Desinfektionsalkohol und etwas Süßem. Sie war offenkundig sehr krank, wie sie gesagt hatte.
»Ich nehme meine Tablette, wenn wir gegessen haben.« Sie manövrierte uns durch den Samstagmorgenverkehr rund um das Einkaufszentrum. »Eine halbe Stunde halte ich gut durch. Dann muss ich nach Hause. Und du zurück ins Hotel. Sonst fange ich an, rückwärts und auf dem Kopf zu fahren. Ich bin jetzt abhängig. Das war ich noch nie. Aber es hat meine Allergien geheilt. Das ist doch ziemlich gut.« Sie lächelte. »Hast du mich wiedererkannt? Gelb ist meine neue Herbstfarbe. Weil meine Leber die Grätsche gemacht hat. Das wird mir wohl auch den Abgang bescheren. Soll gar nicht so schlimm sein.«
»Ich habe dich wiedererkannt«, sagte ich. Ich wollte keinen Trübsinn verbreiten, da sie es auch nicht tat. »Kann ich irgendetwas für dich tun?«
»Das hier.« Sie lehnte sich auf dem Sitz zurück, als hätte sie irgendetwas gebissen, atmete tief ein und wieder aus. »Es sei denn, du wolltest mir Mathe beibringen. Ich dachte, es wäre was, wieder Mathe zu lernen, bevor ich sterbe. Früher konnte ich das mal ganz gut, weißt du noch? Jetzt ist alles anders. Wenn du stirbst, steigt der Wissensdurst. Und der nach anderen Dingen.« Sie lächelte. »Du hast mir gefehlt. Manchmal.«
»Ich weiß«, sagte ich. »Du mir auch.«
»Du hast natürlich ein Gedächtnis. Irgendwie kann ich meins nicht finden.« Sie drehte sich zu mir und sah mich ernst an, als hätte ich etwas gesagt, das ich gar nicht gesagt hatte. Ihr Blick sollte mir Herzlichkeit zeigen. Mich willkommen heißen und ausdrücken, dass ich ihr gefehlt hatte. »An dich kann ich mich aber erinnern«, sagte sie und hob ihr Kinn, was mehr nach unserem Vater aussah als nach ihr. Auch ich tat das manchmal. Plötzlich ergriff mich beißende Sehnsucht – danach, jung zu sein und dass das Leben nur ein Traum wäre, von dem ich erwachte, im Zug nach Seattle.
»Und dir gefällt es also, Bev zu sein?« Noch hatte ich sie gar nicht berührt, streckte aber jetzt unbeholfen eine Hand aus und tätschelte ihre Schulter, die sich unter dem Flickenmantel mager anfühlte.
Sie hustete hart und fächelte sich Luft zu. »O ja.« Sie schluckte, was sie hochgehustet hatte. »Ich bin schon seit fünfzehn Jahren Bev. Das ist mein Normalzustand. Die arme alte Berner ist irgendwo unter den Bus gekommen. Konnte nicht mit mir Schritt halten.«
»Gefällt mir.«
»Dad ist mit Bev ja nicht so gut gefahren. Ich dachte, jetzt versuche ich’s mal. Sie waren damals noch Kinder, weißt du? Beide.«
»Nein, waren sie nicht«, sagte ich, selbst überrascht, dass ich so harsch reagierte. »Das waren sie überhaupt nicht. Sie waren unsere Eltern. Die Kinder waren wir.«
»Na gut. Touché«, sagte sie, im Fahren. Ihre Hände waren rot und sahen aus wie rohes Fleisch. »Sagt man nicht so? Touché? Touché olé?«
»Manchmal.«
»Touch«, sagte sie, nickte und lächelte duldsam. »Ich hab einen Touch weg. Einen Touch Verrücktheit. Genau wie du. Wir sind Zwillinge. Die Keimzelle vergisst nichts.«
»Stimmt«, sagte ich. »So ist es.«
Berners Haus war ein neuerer weißer, doppelbreiter Trailer an einer geraden, engen Wohnstraße, die voll solcher Modelle stand, die meisten neueren Datums mit ordentlichen kleinen Vorgärten und einzelnen jungen Bäumen in Drahtgestellen und sportlichen Autos vor dem Haus, auf dem bordsteinlosen Asphalt geparkt, dazu auf allen Dächern TV-Schüsseln. Kinder liefen draußen
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