Kanada
zustimmen können. Als ich anhielt, schwankten neben uns die großen Getreidefelder und zischelten und flimmerten in changierenden Farben und bogen und beugten sich im Wind. Ich stieg aus und atmete den üppigen Duft von Staub und Weizen und einen Hauch von etwas Verdorbenem ein – nur ein feiner Geruchsfaden. Die Amerikaner lagen unter der Erde, wo sie inzwischen sowieso gewesen wären, auch wenn sie ihr Leben noch fortgesetzt hätten. Ich stand da, Hände in den Hosentaschen, Zehen im Staub, und versuchte alldem Bedeutung zu verleihen, als bräuchte ich das. Es gelang mir nicht, natürlich. Also kehrte ich zu meinem Wagen zurück, wo meine Frau in der Hitze wartete und mich neugierig musterte. Wir fuhren in Richtung der fernen, unsichtbaren Berge im Westen, und ich verließ den Ort, ein weiteres Mal, für immer.
69
Letzten Herbst, bevor meine Schwester starb, besuchte ich sie in den Twin Cities. Das ist nur ein einstündiger Flug vom Detroiter Stadtflughafen, den wir hier alle benutzen wie unseren eigenen. Ich hatte nicht gewusst, dass sie dort lebte. Als meine Schüler eine Party für meine Pensionierung planten, »googelten« sie mich im Internet, um alles herauszufinden, was sie konnten – irgendetwas Peinliches oder Rührendes; jemanden, der mich vielleicht suchte; eine alte Freundin, einen Kumpel aus der Army, einen polizeilichen Haftbefehl. Heutzutage kann man kaum noch etwas geheim halten (wobei es mir besser gelungen ist als den meisten). Sie fanden eine Suchanzeige, die auf irgendeiner Seite »gepostet« war. Sie lautete: »Suche einen gewissen Dell Parsons. Lehrer. Lebt wahrscheinlich in Kanada. Seine Schwester ist krank und würde gern in Verbindung treten. Zeit spielt eine Rolle. Bev Parsons.« Dazu eine Telefonnummer.
Es war ein heftiger Schock für mich, den Namen meines Vaters auf dem Stück Papier zu lesen, das die Schüler mir ziemlich feierlich überreichten. Ihre Absichten, daran lag ihnen, waren eigentlich leichtherziger gewesen, aber natürlich begriffen sie, dass sie mir das hier geben mussten.
Ich hatte weder meinen Vater noch meine Mutter je wiedergesehen, nachdem sie ins Gefängnis gekommen waren, der Tag im Gefängnis von Great Falls war das letzte Mal. Briefe – ein oder zwei von Mildred – fanden ihren Weg zu mir. Einer teilte mir mit, ebenfalls schockierend, dass meine Mutter im Frauengefängnis von North Dakota Selbstmord begangen hatte. (Damals besuchte ich die St. Paul’s Highschool in Winnipeg und kann mich nicht mehr erinnern, was ich empfand.) Aber von ihm war nie etwas gekommen, nachdem er seine Gefängnisstrafe abgesessen hatte. Ich zog daraus den Schluss, dass er wohl meinte, es ginge mir besser dort, wo ich war, und eine Rückblende in ein Leben, das lange vorüber war, würde niemandem nutzen. Mit der Zeit hielt ich das auch für wahr, wobei ich ihn aber keineswegs vergaß. Als ich Berner einmal 1978 in Reno, Nevada, besuchte, erzählte sie mir, sie habe unseren Vater in einem Tankstellenkasino in Jackpot, Nevada, wiedergesehen, auf einem Barhocker, einen einarmigen Banditen mit Vierteldollarmünzen fütternd, neben sich ein »mexikanisches Mädchen«. Er habe einen Schnurrbart getragen, und er sei es bestimmt gewesen, obwohl sie dann zugab, dass sie diese Situation manchmal auch mit einer Bar in Baker, Oregon, verwechselte, wo sie einen einsamen Mann gesehen hatte. »Aber beide Male sah er immer noch sehr gut aus«, sagte sie. »Und geredet habe ich nicht mit ihm.« Berner war Trinkerin, und solche Geschichten aus ihrem Munde waren nichts Ungewöhnliches.
Doch die Vorstellung, dass mein Vater – mit neunzig – womöglich meiner Schwester in schlechten Zeiten beistand und mich jetzt in der Welt suchte, damit ich mithalf, mündete überraschenderweise in dem Gefühl, dass mein ganzes Leben nicht nur angegriffen wurde, sondern in Gefahr geriet, als gar nicht erst richtig gelebt dazustehen. Sie waren noch da und warteten auf mich, rätselhaft, hartnäckig, mit starrem Blick, unauslöschlich. Dabei wurde mir erst klar, wie sehr ich sie hatte auslöschen wollen, wie sehr mein Glück daran hing, dass sie weg waren.
Berner und ich hatten uns in den fünfzig Jahren nur dreimal gesehen. Solche elliptischen Familienbeziehungen sind vielleicht typischer für Amerika. Ich kann über Kanada und die Kanadier nichts verallgemeinern – ich bin ja kaum mal einer von ihnen. Aber wir haben viele Verwandte meiner Frau besucht, bevor sie starben. Wir treffen ihre Schwester in Barrie
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