Kanalfeuer: Ein Fall für Olga Island (German Edition)
jeden Morgen in aller Frühe und bei Wind und Wetter mit dem Rad zum Schwimmen an den Flemhuder See.
Auch heute, an diesem perfekten Sommermorgen, hatte sie in den kühlen Fluten des Sees ihre Runden gedreht. Während sie sich mit dem Handtuch trocken rubbelte, stellte sie fest, dass der Mann noch immer im Schatten unter dem Weißdornbusch lag. Beim Umziehen vorhin hatte sie ihn zwar gesehen, aber nicht weiter beachtet. Sie fingerte nach ihrer Brille, die sie während des Schwimmens immer in einem ihrer Schuhe deponierte. Neugierig sah sie zu ihm hinüber. Er lag seitlich ausgestreckt auf einem Handtuch, eine dünne Wolldecke bis über die Brust gezogen. Er schien zu schlafen. Selbst aus dieser Entfernung konnte sie erkennen, dass er ein gut aussehender Kerl war, mit muskulösem Körper und ebenmäßigem Gesicht. Sein dichtes, helles Haar lag wie ein Kissen um seinen Kopf.
Es war kurz nach sieben, und der Himmel leuchtete porzellanblau. Die Luft war lau und roch so berauschend nach Sommer, dass Hedda, wäre sie allein auf der Wiese gewesen, am liebsten laut losgesungen hätte. Aber sie wollte den Schlafenden nicht stören und hatte außerdem das unbestimmte Gefühl, dass vielleicht noch jemand in der Nähe war. Wahrscheinlich hatte am Vorabend eine Grillparty der ortsansässigen Jugend stattgefunden, und nicht alle hatten es bis nach Hause geschafft. Sie sah sich um. Ein Stück entfernt parkte ein Geländewagen, doch sie konnte nicht erkennen, ob jemand darin saß.
Sie sah zu ihrem Fahrrad hinüber, das sie an den Stamm einer Pappel gelehnt und nicht abgeschlossen hatte. Auf dem Land kam normalerweise nichts weg. Sie wickelte das Handtuch um ihren Oberkörper, streifte Bikinihose und das knappe Oberteil ab und zog sich an. Dabei summte sie leise ein Lied vor sich hin. Seit sie mit dem Schwimmen angefangen hatte, fühlte sie sich viel attraktiver als zuvor. Das Ganze war ein kleines Abenteuer am frühen Morgen, und manchmal hatte sie das Gefühl, dass ein guter und interessanter Teil ihres Lebens womöglich noch vor ihr lag.
Sie dachte an ihre nächste Fahrstunde. Jens Dirksen, der Fahrlehrer, würde sie am nächsten Tag um Punkt drei Uhr am Dorfausgang abholen. Sie lächelte. Wie der Dirksen sie immer ansah, wenn sie zu ihm ins Auto stieg: erfreut, verschmitzt und aufmerksam. Nicht nur der Gedanke, dass sie bald nach Lust und Laune allein nach Kiel ins Theater oder nach Neumünster ins Stadtbad fahren konnte, ließ ihr Herz hüpfen. Beim letzten Mal, sie hatte einen kleinen Fehler beim Schalten gemacht, hatten sich ihrer beider Hände auf dem Schaltknüppel getroffen, flüchtig nur, aber es war aufregend gewesen.
Ihr kleiner Tagtraum wurde jäh unterbrochen, als sie wieder zu dem Mann auf der Wiese hinübersah. Er lag noch immer so da wie vorher. Allerdings hatte sie jetzt den Eindruck, als würde er sie ansehen. Sie rieb sich den Rest Seewasser aus den Augen, konnte jedoch auf die Entfernung nicht erkennen, ob ihre Vermutung richtig war. Wie zufällig begann sie daher, ein paar Kleeblüten aus der Wiese zu zupfen. Und näherte sich dabei dem Mann bis auf wenige Schritte. Sie trat jetzt dicht an ihn heran und beugte sich über ihn. Seine Haut hatte einen olivfarbenen Ton, das Gesicht war ebenmäßig, mit gerader, breiter Nase, hohen Wangenknochen und vollen Lippen. Die Augen hielt der Mann halb geschlossen. Hedda Marxen konnte die rosafarbenen Lidränder sehen und den Rand der dunklen Iris. Sie hielt die Luft an und lauschte. Bis auf die Rufe zweier Amseln war es still.
Etwas irritierte sie, aber sie wusste nicht, was. Erst als sie, von einer plötzlichen Unruhe getrieben, mit dem Fahrrad zum Dorf zurückfuhr, fiel ihr auf, dass er nicht geatmet hatte. Zu Hause angekommen, ging sie schnurstracks ins Wohnzimmer und griff nach dem Telefonhörer. Doch dann kamen ihr Zweifel.
Sie musste wieder an das denken, was lange zurücklag. Ihr fiel der Jeep ihres Mannes ein, den sie damals zu Schrott gefahren hatte. Und all das Schreckliche, was sie angerichtet hatte in jener Nacht. Und natürlich auch das enge, grün gestrichene Zimmer in der Suchtklinik und die Patchworkdecken, die sie in der Ergotherapie genäht hatte, die niemandem in ihrer Familie gefallen hatten. Und plötzlich zitterten ihre Hände so sehr, dass sie, ohne zu zögern, den Sekretär ihres Mannes öffnete, sich ein Glas Whisky einschenkte und es in einem Zug leerte.
Anschließend stand sie, die Flasche mit blutleeren Fingern umklammernd, am Fenster
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