Kanalfeuer: Ein Fall für Olga Island (German Edition)
sieben und halb acht bei ihm war, schlief er immer tief und fest und war kaum wach zu bekommen. Wenn ich ihn deswegen neckte, sagte er immer, er habe nachts den Kanal und die Schleusen beobachten müssen.«
»Hat er auch gesagt, warum?«
»Er musste irgendwas aufschreiben. Keine Ahnung, die werden manchmal etwas tüdelig, die alten Leute.«
»Haben Sie denn mal gesehen, was er aufgeschrieben hat?«
»Auf der Fensterbank zwischen den Blumentöpfen lag immer so ein Ringbuch. Eine Art Liste war das. Er hat sich Uhrzeiten notiert und von irgendwelchen Lichtzeichen oder Lichtern gesprochen. Keine Ahnung, was das sollte. Ich habe leider nicht so viel Zeit, dass ich mich auch noch mit solchen Sachen beschäftigen kann. Ich muss meine eigenen Listen abarbeiten.«
Bei der Teambesprechung am nächsten Morgen hatte Olga Island ihre Kollegen Bruns und Dutzen gefragt, ob sie Aufzeichnungen in der Wohnung des Rentners gefunden hatten. Dutzen war in sein Zimmer gegangen, hatte die Ringbuchkladde geholt und sie herumgereicht. Die Handschrift war krakelig gewesen, aber es war wirklich kaum mehr als eine dürre Liste mit Datumsangaben, Uhrzeiten, Namen von Schiffen und einigen merkwürdig unbeholfenen Ausdrücken.
Gemeinsam hatten sie den Fall noch einmal diskutiert, waren dann aber übereinstimmend zu dem Schluss gekommen, dass hier wohl nichts weiter zu tun war. Wäre der Mann zu Hause in seiner Wohnung gestorben, hätte man die Polizei vermutlich gar nicht erst hinzugezogen. Warum der Rentner das Haus verlassen hatte, würde sich wohl nicht mehr feststellen lassen.
Island wühlte im Kofferraum ihres Mazda und nahm ihren Rucksack heraus. Darin befand sich alles, was sie für einen Feierabend am Strand brauchte: ein Badelaken, der neue Badeanzug in XL, eine Literflasche Mineralwasser, ein Reiseführer über die Abruzzen und eine große Plastikdose mit geschmierten Broten und Apfelstücken. Seit Beginn ihrer Schwangerschaft war ihr ständig schlecht, oder sie hatte Hunger, oder beides gleichzeitig. Auf jeden Fall besserte sich ihre Laune stets, wenn sie etwas essen konnte. Am allerbesten schmeckten ihr zurzeit gutbürgerliche Gerichte, die sonst nicht gerade weit oben auf ihrem Speiseplan gestanden hatten. Sie konnte sich begeistern für Dinge wie Eisbein mit Sauerkraut, in Speck gebratene Scholle mit Bratkartoffeln oder Rinderrouladen mit Rotkohl. Aus diesem Grund hatte sie schon fünfzehn Kilo zugenommen, obwohl sie erst im sechsten Monat war. Der Bauch, den sie vor sich herschob, war nicht mehr zu übersehen, aber sie hatte beschlossen, an ihre Figur keinen Gedanken zu verschwenden. Wozu sollte sie sich Sorgen über ihr Äußeres machen? Männer interessierten sie gerade nicht besonders, und was Frauen dachten, war ihr auch egal.
Ihr Freund Lorenz, der angehende Vater des Kindes, war wieder einmal den Sommer über in Italien, diesmal, um an einer anthroposophischen Sommerakademie einen mehrmonatigen Holzbildhauerkurs zu leiten. Sie hoffte, dass er wie versprochen im September zurückkehren würde, ohne allzu sehr von den Ideen Rudolf Steiners beseelt zu sein. Er hatte ihr versichert, er würde nach seiner Rückkehr aus Italien Wohnung und Atelier in Berlin-Kreuzberg aufgeben, um zu ihr und dem Kind nach Kiel zu ziehen. Aber sie war sich nicht sicher, ob er das tatsächlich tun würde.
Irgendwie war Lorenz nicht gerade der Vater, den man sich für ein Kind wünschte. Zwar hatte er das gewinnendste Lächeln der Welt, und sie konnte sich mit ihm stundenlang auf das Wunderbarste unterhalten. Allerdings war er auch ein Künstler, wie er im Buche stand, ruhelos und hyperaktiv, was seine Ausstellungsbemühungen und Vernissagebesuche anging, aber depressiv, wenn es mal wieder nicht klappte mit der Karriere. Vor allem liebte er es, seine Freiheit in vollen Zügen zu genießen. Immerhin rief er sie jetzt ungefähr alle drei Tage an und erkundigte sich nach ihrem Befinden. Das war eigentlich die größte Veränderung, die sie an ihm feststellen konnte, seit sie ihm vor vier Monaten am Telefon die freudige Botschaft eröffnet hatte, dass sie ein Kind erwartete.
In dem nicht abreißenden Strom von Badegästen wiegte sie gemächlichen Schrittes den Asphaltweg zum Strand hinunter. Es war einer der wirklich heißen Sommertage in Kiel, und der Strand von Falckenstein war auch jetzt, um sieben Uhr abends, noch proppenvoll. Sie ging über den Holzbohlenweg bis ans Wasser, zwängte ihren Bauch in den ansonsten viel zu großen Badeanzug,
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