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Kantaki 01 - Diamant

Kantaki 01 - Diamant

Titel: Kantaki 01 - Diamant Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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diese »Töne« schon vorher gehört – besser gesagt: gefühlt – hatte, ohne sie deuten zu können und ohne ihnen besondere Bedeutung beizumessen. Jetzt aber, nach dem Traum mit Mutter Krirs Kindern, wusste sie: Jeder dieser Töne war Teil der Melodie, zu der sich die flüsternden Stimmen in den Wänden des runden Raums vereint hatten.
    Die Fäden, die alles miteinander verbanden, waren wie Saiten eines gewaltigen, über einzelne Kosmen hinausgehenden Musikinstruments. Und der im Plurial lernende, nach Erkenntnis suchende Geist stellte die Finger dar, die an diesen Saiten zupften, einzelne Töne formten und sie zum Lied der Schöpfung zusammenfassten.
    Angenehme Aufregung erfasste Lidia, und sie dehnte ihr Selbst aus, weit über den Erfassungsbereich der Sensoren hinaus in den Transraum dieses toten, leeren Universums, in dem es so viele falsche Fäden gab, Saiten, deren Töne nicht zur harmonischen Melodie passten. Auch das gehörte zum Plurial des kondensierten Geistes: Entwicklungsfehler, gescheiterte Evolutionen, Bereiche, in denen die Dritte Ära stagnierte, da die Entwicklung von Leben ausblieb, in denen sich Zeit und Raum umkehrten, in sich selbst zurückführten. Dies war Teil des Ganzen, Teil des großartigen Experiments der Schöpfung. Gehörte der Abissale dazu? War er ebenfalls Teil des großen Ganzen? Diente seine spezielle Dissonanz dazu, die Harmonie zu betonen? Er hatte die Temporalen geschickt – zu welchem Zweck? Und wer war die Konziliantin KiTamarani? Fragen, die jetzt nicht beantwortet werden konnten …
    Immer schneller berührte Lidia die Fäden dieser toten Welt, und doch blieb sie ohne Hast. Sie war sich ihrer Verantwortung bewusst, gegenüber den Akuhaschi an Bord, gegenüber Mutter Krir und vor allem gegenüber deren ungeborenen Kindern, die der Geschichte von den Großen Kosmischen Zeitaltern lauschten. Sie musste das Schiff in die lineare Zeit zurückbringen, und sie begriff auch, dass sie dazu imstande war. Der gemeinsame Traum hatte sie innerlich wachsen lassen und das Fenster, das ihre Gabe für sie darstellte, weiter geöffnet.
    Irgendwo in der Ferne erklang ein anderer Ton, rein und sauber, nicht so dissonant wie die anderen. Sie tastete danach, vorsichtig und hoffnungsvoll, und der entsprechende Faden wand sich wie ein kosmischer Aal hin und her, nicht um zu entkommen, sondern um zu ihr zu gelangen, um den Kontakt zu verstärken. Lidia untersuchte ihn aufmerksam, lauschte seinem Echo und wagte es noch nicht, ihn mit dem Schiff zu verbinden. Wenn er sich als falsch herausstellte … Sie konnte nicht einmal ahnen, wo ein weiterer zielloser Transfer durch die nichtlineare Zeit enden mochte.
    Erneut machte sich Mutter Krirs Präsenz bemerkbar; sie weilte noch immer im Pilotendom.
    Geduld ist eine Tugend, sagte die Kantaki. Ebenso wie das Warten auf den richtigen Augenblick. Aber man kann auch zu vorsichtig sein, zu lange zögern. Hab Vertrauen in deine Gabe. Hab Vertrauen zu dir selbst.
    Der Faden fühlte sich richtig an, und er hatte auch den richtigen Ton: ein silberner Klang unter all den Missklängen in diesem leeren Kosmos. Lidia zögerte nicht länger und verband ihn mit dem Schiff, das sofort reagierte. Es wurde schneller, als sich der Faden dehnte und die Richtung wies.
    Wir kehren zurück, sagte Mutter Krir, und Lidia empfing das Äquivalent eines zufriedenen Seufzens von ihr. Wir kehren heim in die lineare Zeit und verlassen die Wüste des Abissalen.
    Lidia spürte es ebenfalls. Es kam zu Erschütterungen, aber sie waren nicht so heftig wie nach Floyds Tod, als das Schiff in die nichtlineare Zeit geraten war. Die Vibrationen kündigten den Wechsel an: Der dunkle Kosmos, das tote Universum, schien das Schiff festhalten zu wollen, und der lebende Gigant, als den Lidia den Kantaki-Koloss wahrnahm, sträubte sich dagegen. Er spannte die Muskeln – das Triebwerk produzierte mehr Energie für den Flug durch den Transraum – und sprang nach vorn …
    Dimensionen verschoben sich, und für einige subjektive Sekunden verlor Lidia die Orientierung. Ihre Hände blieben in den Sensormulden; der Kontakt zu den Bordsystemen des großen Raumschiffs blieb bestehen. Hinzu kam die beruhigende Präsenz von Mutter Krir, die sie noch immer vor allen negativen Empfindungen schützte. Sie spürte, dass der Faden nach wie vor mit dem Schiff verbunden war, und als sie »die Augen öffnete« – als sie mit den Sensoren ins All blickte –, sah sie ein vertrautes Universum, voller Sterne und

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